10.02.2003 19:42
Unendliche Tiefen
Am Wiener
Karlsplatz könnte die Zukunft der Stadt ausgehoben werden - Ein Kommentar der
anderen
Unlängst war in dieser Zeitung über eine
Bürgerinitiative zu lesen, deren VertreterInnen eine kulturelle Erneuerung des
Wiener Karlsplatzes fordern. Sie betreten damit, wie Thomas Rottenberg richtig
bemerkte, eine seit zehn Jahren bestehende Endlosschleife.
Erstaunlich
allerdings, dass der Bürgerinitiative mit ihren verschwommenen Forderungen eine
öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wird, die sich deutlich sachkundigere
Wortmeldungen nur wünschen können. Gefordert wird hier etwa ein "Signal für
künstlerische Gestaltungsformen des 21. Jahrhunderts" oder ein "Platz für Offene
Kulturen als demokratische Wegbereiter".
Diese Worthülsen warten nur
darauf, von verschiedenen Seiten politisch vereinnahmt zu werden. Das
Museumsquartier ist ein eindrucksvolles Beispiel. So unbeholfen die
bürgeraktivistische Rhetorik aber auch sein mag - sie bemüht sich um
kulturpolitische Perspektiven, die etwa bei der Sozialdemokratie meist schon im
Ansatz scheitern. Auch die Grünen verwenden ihre wenigen Ressourcen vermehrt
darauf, sich um neoliberale Konzepte wie die Creative Industries zu kümmern. Die
wenigen Initiativen, die sich dem ökonomistischen Kulturverständnis widersetzen,
werden sukzessive ausgehungert. Jüngstes Beispiel: Das Depot, renommierte Wiener
Institution für Kunst und Theorie, steht vor dem endgültigen Aus.
Top-down-Lösung
Der Karlsplatz bietet beste
Voraussetzungen für einen Kulturstandort, dessen Zweck nicht die Erhaltung des
kulturellen Erbes oder die Stimulierung kultureller Konsumwut ist, sondern eine
exemplarische Realisierung von Öffentlichkeit. Weder von Kulturklüngeln noch vom
Denkmalschutz eingeschränkt, fasziniert seine urbane Lage wie seine
Disparatheit. Jenseits von Slogans wie "Unort" und "Verkehrshölle" hat er das
Potenzial zu einem produktiven urbanen Dschungel. Und an konkreten Initiativen,
die in der Anfangsphase einen solchen Platz prägen könnten, besteht kein
Mangel.
Will man der Obsession vergangener Bürgerinitiativen gegen
Lesetürme folgen, kann man den Aktivisten für den Karlsplatz nur nahe legen, mit
der gleichen Logik einen spiegelbildlich in die Tiefe gegrabenen Turm
einzufordern. Ein solches Bild ist seit den Aushubarbeiten an diesem
U-Bahn-Knotenpunkt auch keineswegs verwegen, noch bleibt es rein metaphorisch.
Und ein Karlsplatz, der den Blick nach vorne nicht scheut, könnte den Motor der
ins Stocken geratenen Pläne für ein "ArtScience Center Vienna" obendrein wieder
zum Laufen bringen.
Radikal-diskursive Kulturinitiativen, Netzkultur,
Medienkunst, Kunsttheorie und experimentelle Überlagerungen von Kunst, Politik
und Theorie könnten hier ohne Platzhirschen und Hausmeister einen Ort erneuern,
ohne dabei zur Vertreibung der marginalen Gruppen beizutragen, die den
Karlsplatz derzeit am stärksten prägen. Eine gemeinsame Ressourcennutzung würde
gerade so wenig Koordination wie nötig implizieren, der Top-down-Lösung des
Museumsquartiers wäre exemplarisch ein aktivistisches Gegenmodell
beigesellt.
Der ganz ohne Kuratel und Führung von Kuratoren belebte,
inverse Turm wäre also weniger ein Ort der Kontemplation wie der alte Leseturm
noch ein Ort des Spektakels, sondern ein Turm, der sich in die Welt hineinbohrt.
Die Wiener Stadtregierung ist - wieder einmal - aufgerufen, ein
sichtbares Zeichen für eine Kulturpolitik zu setzen, die diesen Namen verdient.
(DER STANDARD, Printausgabe, 10.2.2003)