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Kunstberichte

Von Sex besessener Narziss

Albertina: Große Schau der Zeichnungen und Aquarelle Egon Schieles mit kritischem Blick auf dessen Œuvre
Egon Schiele: Aktselbstbildnis (1916, Bleistift, Deckfarben). Albertina Wien

Egon Schiele: Aktselbstbildnis (1916, Bleistift, Deckfarben). Albertina Wien

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Er wollte über seine Lehrer, auch den von ihm verehrten Gustav Klimt, hinaus wachsen und seine Konkurrenten übertreffen: Egon Leo Adolf Schiele (1890–1918).

Oskar Kokoschka war Zeit seines Lebens nicht gut auf den früh Verstorbenen zu sprechen, warum lässt sich in der Albertina-Schau, die ohne Untertitel auskommt, gut nachvollziehen. Direktor Klaus Albrecht Schröder geht schon seit seinen Ausstellungen im Kunstforum dem Phänomen und Mythos Schiele auf den Grund.

Diese Schau von über 200 großteils malerischen Papierarbeiten konzentriert sich auf den Werkblock, der bezüglich moderner Radikalität über den Gemälden steht.

Aus internationalen Museen und Privatsammlungen wurden 90 Arbeiten ergänzt zu 130 der Albertina, um Themenblöcke und einzelne Modellsitzungen wieder zu vereinen.

Daneben ist ein stark körperbetonter Akzent vorrangig: Akte, Selbstdarstellungen in ganzer Figur und Kinderbildnisse weisen chronologisch auf inhaltliche Schwerpunkte. Dazu sind die Arbeiten während des für Schiele traumatischen Gefängnisaufenthalts zur Gänze vorhanden.

Einige Landschaften und symbolistisch-abstrahierte Chrysanthemen zeigen zeitliche Parallelen zu Edvard Munch oder dem frühen Piet Mondrian. Es zeichnen sich aber ebenso deutlich Bezüge zu Oskar Kokoschka und die Phase der Begeisterung für Gustav Klimt ab.

Einflüsse von Esoterik und Psychologie

Wichtig (und in dieser Breite neu) ist der Verweis auf wissenschaftliche und esoterische Einflüsse, die in Schieles Werk starken Niederschlag gefunden haben.

Begeistert nahm er die Hysterie- und Hypnose-Forschung aus den Büchern des Neurologen Martin Charcot wie aus einem Musterbuch für neue Gestik und Mimik auf. Die Dissonanz in der Körpersprache der Geisteskranken nützte er als Möglichkeit, für ihn unannehmbare Zustände seiner Gegenwart zu kritisieren.

Dadurch konnte er auch eine Nobilitierung der Erotik anstreben, die jedoch damals als reine Pornografie empfunden wurde und zu Skandalen führte. In den USA sind manche Blätter auch jetzt noch nicht akzeptiert, obwohl in Europa sogar Schieles masturbierenden Mädchen heute eher als theatralisch denn als anstößig empfunden werden.

Diese den Betrachter herausfordernde, fast performative Art einer konzentrierten Pose, die natürlich besonders die Selbstbildnisse aufweisen, wirkt zuweilen penetrant.

Die wie in Hypnose anmutenden Köpfe sind mit sich windenden Körpern verbunden. Manche Inszenierung ist bewusst peinlich, sich öffnende Kleider können auch geschmäcklerisch verkürzte Frauenbeine zur Schau stellen.

Kommt die Destabilisierung des Raumbildes und der Perspektive zur gestörten Körpersprache, entstehen reine Symbolfiguren. Früher wurden sie nur individualpsychologisch wegen Schieles angeblicher narzisstischer Kränkung durch Publikum und Presse interpretiert. Diese Schau und das zu ihr gehörige 420-seitige Katalogbuch pochen auf eine neue Sicht.

Zerfall der alten Gesellschaftsordnung

Der kommende Weltkrieg, der Zerfall einer alten Gesellschaftsordnung, schürten vor allem bei den Künstlern eine pessimistische Sicht. Mit dem Ende der in sich ruhenden männlichen Persönlichkeit kamen Themen von Einsamkeit, Scheitern und Zwängen auf, die bis heute ihre Aktualität behalten haben. Auf diese Inhalte und Zusammenhänge ist die Schau in der Albertina fukussiert.

Von Schieles sich erst langsam vom Akademischen lösenden Frühwerk und dem routinierten, oft blutleeren Spätwerk allerdings bleibt Vieles ausgespart – und das ist gut so.

Selbst für Allergiker gegenüber den wechselnden Männerrollen des Künstlers vom Heiligen, Mönch und Märtyrer bis zum Triebtäter sind hier viele neue Aspekte zu orten. So erlauben die Quellenstudien längst, etwa die seherischen Lichtkreise um die Figuren als Erlösungsanspruch der Anthroposophen zu deuten. Damit ist die Wiener Moderne einmal mehr in ihren okkulten Wurzeln zu erkennen.

Fazit: Eine sehr gelungene Zusammenstellung – die erste dieser Art seit der Albertinaschau von Otto Benesch im Jahr 1948.

Mittwoch, 07. Dezember 2005


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