Er wollte über seine Lehrer, auch den von ihm
verehrten Gustav Klimt, hinaus wachsen und seine Konkurrenten übertreffen:
Egon Leo Adolf Schiele (1890–1918).
Oskar Kokoschka war Zeit seines Lebens nicht gut auf den früh
Verstorbenen zu sprechen, warum lässt sich in der Albertina-Schau, die
ohne Untertitel auskommt, gut nachvollziehen. Direktor Klaus Albrecht
Schröder geht schon seit seinen Ausstellungen im Kunstforum dem Phänomen
und Mythos Schiele auf den Grund.
Diese Schau von über 200 großteils malerischen Papierarbeiten
konzentriert sich auf den Werkblock, der bezüglich moderner Radikalität
über den Gemälden steht.
Aus internationalen Museen und Privatsammlungen wurden 90 Arbeiten
ergänzt zu 130 der Albertina, um Themenblöcke und einzelne Modellsitzungen
wieder zu vereinen.
Daneben ist ein stark körperbetonter Akzent vorrangig: Akte,
Selbstdarstellungen in ganzer Figur und Kinderbildnisse weisen
chronologisch auf inhaltliche Schwerpunkte. Dazu sind die Arbeiten während
des für Schiele traumatischen Gefängnisaufenthalts zur Gänze vorhanden.
Einige Landschaften und symbolistisch-abstrahierte Chrysanthemen zeigen
zeitliche Parallelen zu Edvard Munch oder dem frühen Piet Mondrian. Es
zeichnen sich aber ebenso deutlich Bezüge zu Oskar Kokoschka und die Phase
der Begeisterung für Gustav Klimt ab.
Einflüsse von Esoterik und Psychologie
Wichtig (und in dieser Breite neu) ist der Verweis auf
wissenschaftliche und esoterische Einflüsse, die in Schieles Werk starken
Niederschlag gefunden haben.
Begeistert nahm er die Hysterie- und Hypnose-Forschung aus den Büchern
des Neurologen Martin Charcot wie aus einem Musterbuch für neue Gestik und
Mimik auf. Die Dissonanz in der Körpersprache der Geisteskranken nützte er
als Möglichkeit, für ihn unannehmbare Zustände seiner Gegenwart zu
kritisieren.
Dadurch konnte er auch eine Nobilitierung der Erotik anstreben, die
jedoch damals als reine Pornografie empfunden wurde und zu Skandalen
führte. In den USA sind manche Blätter auch jetzt noch nicht akzeptiert,
obwohl in Europa sogar Schieles masturbierenden Mädchen heute eher als
theatralisch denn als anstößig empfunden werden.
Diese den Betrachter herausfordernde, fast performative Art einer
konzentrierten Pose, die natürlich besonders die Selbstbildnisse
aufweisen, wirkt zuweilen penetrant.
Die wie in Hypnose anmutenden Köpfe sind mit sich windenden Körpern
verbunden. Manche Inszenierung ist bewusst peinlich, sich öffnende Kleider
können auch geschmäcklerisch verkürzte Frauenbeine zur Schau stellen.
Kommt die Destabilisierung des Raumbildes und der Perspektive zur
gestörten Körpersprache, entstehen reine Symbolfiguren. Früher wurden sie
nur individualpsychologisch wegen Schieles angeblicher narzisstischer
Kränkung durch Publikum und Presse interpretiert. Diese Schau und das zu
ihr gehörige 420-seitige Katalogbuch pochen auf eine neue Sicht.
Zerfall der alten Gesellschaftsordnung
Der kommende Weltkrieg, der Zerfall einer alten Gesellschaftsordnung,
schürten vor allem bei den Künstlern eine pessimistische Sicht. Mit dem
Ende der in sich ruhenden männlichen Persönlichkeit kamen Themen von
Einsamkeit, Scheitern und Zwängen auf, die bis heute ihre Aktualität
behalten haben. Auf diese Inhalte und Zusammenhänge ist die Schau in der
Albertina fukussiert.
Von Schieles sich erst langsam vom Akademischen lösenden Frühwerk und
dem routinierten, oft blutleeren Spätwerk allerdings bleibt Vieles
ausgespart – und das ist gut so.
Selbst für Allergiker gegenüber den wechselnden Männerrollen des
Künstlers vom Heiligen, Mönch und Märtyrer bis zum Triebtäter sind hier
viele neue Aspekte zu orten. So erlauben die Quellenstudien längst, etwa
die seherischen Lichtkreise um die Figuren als Erlösungsanspruch der
Anthroposophen zu deuten. Damit ist die Wiener Moderne einmal mehr in
ihren okkulten Wurzeln zu erkennen.
Fazit: Eine sehr gelungene Zusammenstellung – die erste dieser Art seit
der Albertinaschau von Otto Benesch im Jahr 1948.
Mittwoch, 07. Dezember
2005