19.06.2007 / Feuilleton / Seite 13

Es lebe der König

Ambivalenzen ausgespielt: Die documenta 12 setzt den Souverän Kunst wieder ein

Timo Berger
Und dann stellt es sich plötzlich doch ein. Das Gefühl von Erhabenheit. Die Erfahrung des Kunstschönen. Und zwar vor drei Ölgemälden, auf denen fast nichts zu erkennen ist. Der Chinese Xie Nanxing hat in seiner Serie »Untitled« (2006) Farbschichten lasierend übereinandergelegt, zu dunklen Tönen verdichtet, die eine Landschaft evozieren: ein nächtlicher Garten, in der Ferne Lichter, vielleicht Scheinwerfer, die auf den Betrachter gerichtet sind. Der bleibt gefangen in seinem Wunsch zu verstehen, wird auf sich selbst zurückgeworfen. Eine eindeutige Interpretation scheitert an der Ambivalenz des Kunstwerks. Eine Spannung, die über das Gemälde hinaus zur Beschäftigung mit den Mechanismen von Präsenz und Repräsentation anregt. Von Ambivalenz geprägt ist die von Roger M. Buergel als Künstlerischem Leiter und seiner Frau Ruth Noack als Kuratorin konzipierte documenta 12.
Die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende Ausstellung will diesmal nach Aussagen ihres Leiters »kein Best of« der internationalen Kunst sein, sondern selbst Gesamtkunstwerk. Seine einzelnen Bestandteile – die Werke, die Orte, die Statements – sollen Bezüge stiften und dem Publikum Buergels These von der Migration der Form illustrieren. Dieser Gedanke – daß sich bestimmte Formen in der Kunst immer wieder finden, also lokale und historische Kontexte transzendieren – rechtfertigt sowohl die Hängung der Kunstwerke nach formalen Ähnlichkeiten als auch die Einbeziehung von Werken aus dem Fundus von mehr als einem halben Jahrtausend westlicher und nichtwestlicher Kunstgeschichte. Ein ambitioniertes Unternehmen: nicht mehr und nicht weniger als die Selbstermächtigung Bruegels zum Souverän, der die Werke in seinen Kontext setzt.
Aber diese Genealogie der Formen überzeugt nicht immer. Sind die Bezüge zwischen einzelnen Werken augenfällig, wirken sie platt und populistisch suggestiv. Abstrakte Kompositionen aus vertikalen Linien von Charlotte Posenenske verweisen auf minimalistische Skulpturen von John McCracken, Fotografien abgeschnittener Locken von Bela Kolarova korrespondieren mit Fotografien von kunstvollen Frisuren nigerianischer Frauen von J.D. ’Okhai Ojeikere. Manche Zusammenhänge, wie der zwischen Hito Steyerls Video über die Suche nach einem verloren geglaubten Bondage-Foto, das sie 1987 von sich in Tokyo schießen ließ, und einer Performance, bei der die Tänzer wie an unsichtbaren Seilen bewegt erscheinen, eröffnen neue Betrachtungsweisen, während sich Beziehungen zwischen anderen Arbeiten auch nach längerer Betrachtung nicht erschließen, Auswahl und Arrangement einen Eindruck von Beliebigkeit hinterlassen.
Ein weiteres Problem dieser documenta: Gerade dezidiert politische Kunstwerke greifen zu kurz. Schwarzweiß-Fotografien von Ahlam Shibli zeigen Häuser von Beduinen, die in Israel als »illegale Ansiedlungen« gelten und immer wieder zerstört werden. Auch die Bilder aus dem Shell-Delta in Nigeria, die vom Associate Press-Fotografen George Osodi stammen, kommen über den Dokumentarismus nicht hinaus. Die für die Documenta-Halle von Peter Friedl ausgestopfte Giraffe, die aus dem einzigen Zoo in der Westbank stammt und bei einem israelischen Angriff umkam, wirkt immerhin wie ein riesiges Steiftier, das als Ikone der Ausstellung taugt.
Buergel, der gern einen wallenden Mantel und ein schmales Kinnbärtchen trägt, erklärte auf der Eröffnungspressekonferenz am Mittwoch, Kunst sei nicht dazu da, die Defizite der politischen Diskurse auszugleichen – eine klare Absage an das Projekt seines Vorgängers Okwui Enwezor der auf »documenta-Platforms« die Bedeutung von Demokratie und von (politischer) Repräsentation verhandeln ließ. Buergel gibt dem Besucher statt dessen drei Leitfragen an die Hand: Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das ›bloße‹ Leben? Und: Was tun?
Die »Guides« auf dem Ausstellungsgelände werfen mehr Fragen auf, als sie zu beantworten gewillt sind. Da sich der ursprüngliche Kontext nach Buergel sowieso nicht transportieren läßt, wird auf sonst übliche Hilfestellungen weitestgehend verzichtet. Angaben zum Künstler oder zur Enstehungszeit der Werke werden zwar im Katalog nachgeliefert – doch dessen hoher Preis von fast 30 Euro stellt eine Barriere für seinen Erwerb dar, die den didaktischen Anstrich der Buergel-Schau konterkariert.
Zu den erfrischenden Arbeiten auf zählt das Karussell des in Berlin lebenden Politkunstagitators Andreas Siekmann. Ein temporäres Denkmal, das den Blick auf ein historisches Monument programmatisch-provokant versperrt. Um eine auf dem Platz vor dem Fridericianum aufgestellte Statue von Friedrich II. hat Siekmann sieben feste und drei kreisende Figuren montiert. Auf 43 Tableaus werden Szenen dargestellt, die Rituale supranationaler Organisationen wie Weltbank oder G-8 zitieren, ebenso konkrete Aktionen von Sicherheitsorganen. Exemplarisch verweist Siekmann auf das Wirken der Ausländerbehörde, die nur ein paar Ecken weiter vom Ausstellungsgelände Tag für Tag Abschiebungen organisiert. Das zweckentfremdete Kinderspielzeug repäsentiert eine »Exklusive«, die als »vierte Gewalt« im Staate Ausschlußmechanismen garantiert. Durch die Mobilität der Arbeit ergeben sich ständig neue Sichtweisen auf den Komplex, der das Schicksal des »ausgeschlossenen Vierten« in unserer Gesellschaft verhandelt. Literarische Steilvorlage für das Werk ist übrigens Dantes »Göttliche Komödie«.
Ein weiteres Highlight ist Harun Farockis »Deep Play«. Der in Berlin lebende gebürtige Tscheche hat sich mit seiner in den Gefängnisvideos perfektionierten, sezierenden Arbeitsweise des Endspiels der vergangenen Fußball-WM angenommen. Auf zwölf synchronisierten Monitoren loopen Spielszenen aus verschiedenen Kameraperspektiven, animierte Sequenzen und Spielflußanalysen aus der Draufsicht. So wird die Erkenntnis vermittelt, »daß das Netz aus Bezügen zwischen ballführenden, passenden, den Ball annehmenden und laufenden Spielern, bezogen auf die Größe des Spielfeldes, ungefähr der Vielfalt von Konstellations- und Bewegungsmöglichkeiten entspricht, die ein gewöhnlicher Schwarm Guppys in einem mittelständischen Aquarium bietet«, wie Diedrich Diederichsen im Ausstellungskatalog lapidar anmerkt. Farockis Arbeit läßt über die Bilderproduktion nachdenken; darüber, wie aus der Dramatik eines Fußballspiels durch die Auswahl bestimmter Einstellungen eine sinnvolle Narration von Triumph und Niederlage wird.
Die documenta 12 ist in mancher Hinsicht ein gewagtes Unternehmen. Die vor der Eröffnung in den Medien verbreitete Euphorie sorgte für die entsprechende Fallhöhe. Manch ein Besucher mag sich vom totalitären Gestus der Ausstellung wieder in die Moderne zurückgeworfen fühlen, aber bei aller berechtigten Kritik – bei einigen Besuchern konnte man einen seltenen Glanz in den Augen wahrnehmen.

bis 23. September, täglich 10–20 Uhr, Kassel