FEUILLETON Samstag, 21. April 2001
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In Wohlfühlfolterkammern

Jenseits der Streichelbox: Die 2. Berlin Biennale zeigt junge Kunst, die sich nach der Welt ausstreckt

Das Werk heißt „Happy Berlin“. Aber alle spitzen Kritikerbleistifte müssen ganz traurig dabei werden. Sie wollen Urteile, Klassifizierungen, Sinnfragen in die Blöcke notieren. Und dann sagt dieser Surasi Kusolwong aus Thailand: „Vergessen Sie alles über Kunst und alles andere auch, für eine Weile...“. Einfach mal hinlegen und sich kostenlos von einem Masseur durchkneten lassen, danach kann man dann weitersehen.

Bleiben noch die Werke von den anderen 48 Künstlern bei dieser zweiten Berlin Biennale. Und die verhält sich insgesamt nicht viel anders zum Besucher als eben Kusolwong – es ist gewissermaßen eine „Happy-Berlin-Biennale“. Fragen nach roten Fäden, nach Erleuchtung, nach kunstreligiöser Exegese hat die niederländische Kuratorin Saskia Bos meist mit leisem Spott beantwortet. Sie hat sich bedeutungsvolle Erklärungen ebenso gespart wie das Erklären von Bedeutungen. Man solle sich doch lieber erst die ganzen Sachen anschauen. Bos wollte keine zentrale Kuratoren-These von ihren Künstlern illustrieren lassen, sie will junge Kunst aus aller Welt in Berlin zeigen. Kunst, die sich immerhin dadurch auszeichnet, dass sie sich nicht autistisch in ihrer eigenen Welt verschließt, sondern freundlich, manchmal auch humorig auf den Besucher zugeht.

Die Stimmung dieser Besucher ist zunächst entsprechend unverbindlich und aufgeräumt; es wirkt anfangs ein bisschen so, als habe die Holländerin da eine hochkulturelle Rudi-Carell-Show inszeniert, mit vielen gutmütigen Mitmachspielen. Weil pädagogische Hilfen verweigert werden und bei vielen Installationen und Videos letztlich nur die Oberfläche einer künstlerischen Arbeit wahrgenommen werden kann, ist der erste Eindruck eben: Oberflächlichkeit. Aber dieser Eindruck erweist sich mit der Zeit in den meisten Fällen als falsch. Und in den anderen Fällen bringt vielleicht ein späterer Besuch noch was. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ist es nicht so wie bei der ersten Berlin-Biennale, wo mit Berlin als Ort und Mythos ein Generalthema da war und sich die meisten Leute schon relativ früh auf Begeisterung oder Ablehnung festgelegt hatten.

Solche großartigen oder auch großkotzigen, auf jeden Fall aber großen Installationen wie die von Jonathan Meese, das sei vor allem „laute Jungs- Kunst“ gewesen, erinnert sich später an der Bar eine Frau. Nun ist die Kategorie „Jungs-Kunst“ nicht gerade handelsüblich, hat aber in der zweiten Biennale, wenn man so will, schon ein Gegenstück gefunden: eine Holzhütte der Spanierin Alicia Framis, die ausschließlich von Mädchen und Frauen betreten werden darf. Männer stehen betreten daneben. Ein „Comforter“ treibt da drin sein Wesen. Was treibt er noch? Ein Callboy sei das, wird geraunt. Nicht auszudenken. Aber auch nicht rauszukriegen aus den Frauen, die da wieder rauskommen. Nur verkicherte Auskünfte über aphrodisierende Getränken, die wie Hustensaft schmecken sollen. Eine merkwürdige Spannung liegt um dieses Gehäuse. Angeblich ist alles drin, was die Frau sich traut in dieser hybriden Ausstellungs-Intimsituation.

Vielleicht liegt die Qualität im Vergleich zu den unbarmherzigen Publikumskonfrontationen der Siebziger darin, dass die Interaktion unter erotischem Knistern hier zu einer ziemlich zwingenden sozialen Form verschmolzen wird. Das funktioniert durchaus auch, wenn es weniger wohlgefühlig zugeht. Der Widerpart zu Framis‘ Schmeichel- und Streichelbox ist ein schwarzer Kasten von Claude Lévêque. Hier ist es ein elektrisches Knistern, das man hört, spürt, ahnt. Plötzlich ein Knall und ein Lichtschlag, irrsinnig laut, heftig, kurz und schmerzhaft. Nach einer Weile wieder. Elektroschocks in der Folterkammer. Es hat etwas mit Angst zu tun und wieder mit eigener Verantwortung. Man könnte rausgehen. Aber man bleibt drin, und kriegt wieder eine gewischt. Es ist ein bisschen wie im Leben selbst.

Vorsprung durch Biotechnik

Gerade die vermeintlichen Kuschelecken dieser Biennale sind es, die sich mit der Zeit als Verarbeitung tiefernster Probleme unserer Gesellschaften entpuppen. Da ist diese zunächst fast peinlich bunte Installation von Patricia Piccinini aus Sierra Leone: halbwüchsige Pókemon- Muttis aus Japan wirken da von ihren Videobildschirmen aus erzieherisch auf pinke und hellblaue „Truck Babies“ ein: LKWs sind das, die nach dem populären Kindchenschema heutiger Kleinwagen geformt sind und entsprechend behandelt werden – wie Kinder, denen man besorgt die Verkehrsregeln beibringt. Das ist nur solange harmlos lustig, bis man sich einmal vor Augen führt, dass LKWs ja tatsächlich meist in Rudeln über die Autobahnen jagen, dass sie in den Landschaften der Moderne die Fauna ersetzt haben, dass sie Manfred und Tilo heißen oder zumindest mit den Männern, die solche Namensschilder in die Frontscheibe hängen, doch fast schon zu einem Lebewesen verschmolzen sind.

Technik, vor allem Biotechnik, die eben nicht nur menscheitsbeglückender Hilfsgeist ist, das ist eine Problematik, die auch in comicgrellen Bildern von Inka Essenhigh auftaucht und in einer „Vertreibung aus dem Paradies“ von Fred Tomaselli, wo der Mensch als heulendes Nervenbündel vor einer sengenden Gentech-Sonne flüchten muss. Die bange Frage nach Identität wird bei einer ganzen Reihe anderer Arbeiten auf die Menschen in der Gesellschaft angewendet und nicht nur auf das Ausnahmewesen „Künstler“ – die Abneigung gegen den herkömmlichen Kunstbetrieb zeigt sich fast schon militant. Wenn Jonathan Monk etwa die auratischen Abstraktionen von Gerhard Richter und Sol Lewitt zu Filmen zusammenklebt und als künstlerische Endlosschleife denunziert. Einen der überzeugendsten Beiträge über die Merkwürdigkeiten des Kunstbetriebes hat dabei Christian Jankowski abgeliefert, zugleich vielleicht überhaupt seine bisher beste Arbeit. Der Regisseur des Mainstream-Films „Victor Vogel“ lässt dabei ältere Jankowski-Projekte nachspielen – etwa die Nahrungsjagd mit Pfeil und Bogen im Supermarkt – und benutzt Akteure wie Götz George, die mitten in den Kinoszenen für Jankowski Fragen über das Wesen der Kunst, ihre Grenzen und ihre Kommerzialisierung beantworten. Diese Einbettung des Künstler-Videos in die Ebene des Spielfilmes wirkt wunderbar auf die Ausstellung zurück – hier dominieren klar die Videos. Ihre Qualität beim Zugriff auf die Wirklichkeit wird deutlicher, und ihre Wirkungskraft.

Kutlug Ataman etwa zeigt eine intime Arbeit über türkische Transvestiten, die noch trauriger stimmt als sein Spielfilm „Lola und Bilidikid“. Darren Almond lässt seinen Vater in Nahaufnahme dessen nordenglisches Proletarierleben erzählen und seine Mutter dabei emotional durch Himmel und Hölle gehen. Und vor Aernot Miks treffend als „Klebrigkeit“ betitelter Sitzblockade, vor diesem erdenschweren, sinnlosen Laokoon-Geringe glaubt man, all die Fernsehbilder von Gorleben, Hooligans oder dem 1. Mai endlich zu kapieren. Auch wenn es Schwachstellen gibt, wie „Glamour“ von Tatham und O‘Sullivan mit Dan-Flavin-Lampen, Stacheldraht, Spiegel und Ratlosigkeit – das Wohlfühl-Theater dieser Biennale hat durchaus Untiefen unter den popbunten Oberflächen. Das reicht von expliziter Gesellschaftskritik an einer sozialhygienisch um sich prügelnden Moderne bei dem Österreicher Octavian Trauttmansdorff bis zu dem provozierenden BMW-Prolet-Kult von Swetlana Heger und Plamen Dejanov.

Diese Biennale habe einen Workshop-Charakter, hat Saskia Bos angekündigt. In der Tat sollte man ihr vielleicht ein wenig Zeit lassen und dann sehen, wie im Kontext der Diskurse auch Arbeiten stimmkräftig werden, die im Moment noch arg glatt erscheinen – wie die motorradselige Videoclip- Anschmachtung an Pier Paolo Pasolini der Römerin Elisabetta Benassi. Es wird an den Wochenenden Diskussionsforen geben und einen Boots-Pendelverkehr zwischen den Ausstellungsorten im Postfuhramt und den Kunst-Werken in Mitte und denen in den U-Bahnbögen bei der Jannowitzbrücke und bei der Allianz in Treptow. Aber hier zeigt sich ein ziemlich prekäres Problem, vielleicht das Hauptproblem aller künftigen Biennalen: das der Räumlichkeiten. Die Kunst- Werke haben sich zwar aus den Umbruchszeiten ins renovierte Neue Berlin retten können. Das Postfuhramt wird indes künftig den Verwertungsinteressen der Post zum Opfer fallen. Neue, spannende Räume für neue, spannende Kunst werden aber wohl auch in Berlin demnächst immer schwieriger zu finden sein. Und es wäre fatal, wenn die Recherche nach Ausstellungsräumen für künftige Biennale-Macher aufwändiger würde als die Recherche nach den Global Players einer verspielten, weltzugewandten Kunst, wie Saskia Bos sie jetzt nach Berlin gebracht hat. Sie zeigt der Stadt eine insgesamt eher gelungene Ausstellung rund um die Werte „Denken in Beziehungen, Anteilnahme, Engagement“. Wäre nicht übel, wenn die Stadt genau davon künftig noch mehr für die Biennale übrig hätte.

PETER

RICHTER

2. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst, bis 20. Juni 2001 im Postfuhramt, den Kunst-Werken, den S-Bahnbögen Jannowitzbrücke und den Allianz Treptowers. Der erste Band des Katalogs liegt vor, der zweite erscheint im Mai im Oktogon-Verlag zum Gesamtpreis von 50 DM.


Bildunterschrift:

Eine Physiognomie der Moderne – der LKW: „Truck Babies“ von Patricia Piccinini

Foto: Berlin Biennale

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V2.01 [2001-03-27]