Sabine B. Vogel: Die documenta 11 ist eröffnet faz.net 15.03.2001

 

15. März 2001 Heute beginnt in Wien die documenta 11. Heute? Und in Wien? Die documenta, für die Kunst unserer Zeit etwa das, was die Olympischen Spiele für die Leichtathletik sind, findet seit ihrem Bestehen in Kassel statt.

Wenn ihr diesmaliger Leiter, der gebürtige Nigerianer Okwui Enwezor, ihren Auftakt mehr als ein Jahr vorverlegt, dann muss er dafür einen triftigen Grund haben. Was ist so wichtig, dass es nicht bis zum Juni 2002 Zeit hat? Und was soll überhaupt in den kommenden 15 Monaten geschehen, das einen so langen Vorlauf rechtfertigt?

Enwezor, soviel wurde bei der Programmvorstellung in Wien deutlich, plant einen großen Wurf. Er will nichts Geringeres, als noch entschiedener als seine Vorgänger die Kunst unserer Zeit zu gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit hin öffnen, die ihm in der Gegenwartskunst wohl unterbelichtet scheinen. 15 Monate lang sollen in verschiedenen Städten rund um den Globus Philosophen und andere Theoretiker ästhetische und politische Fragen behandeln.

Am Donnerstag beginnen die ersten Vorträge in Wien. Das Leit-Thema der Wiener Etappe lautet: "Nicht verwirklichte Demokratie". Dass Enzewor damit auf vielbeschworene Gefahren für die Demokratie durch die ÖVP/FPÖ-Regierung anspielen wolle, wies er von sich. "Democracy Unrealized" gehe weit über tagespolitische oder nationale Themen hinaus.

Von Wallerstein bis Zizek - die documenta-Besetzung

Die Auswahl der Gäste unterstreicht das: Im ersten Block werden Redner wie Stuart Hall, das ungekrönte Haupt der "cultural studies", Immanuel Wallerstein, Soziologe und Guru für diverse Zeitfragen von der Globalisierung bis zu Rasse, Klasse und Nation, und Slavoj Zizek, der ein "Plädoyer für die leninistische Intoleranz" angekündigt hat, über "Alternativen, Grenzen und neue Horizonte" von Demokratie verhandeln.

Auf Wien werden weitere "Vorab-Plattformen" folgen: Neu-Delhi, die Karibikinsel St. Lucia, Johannesburg, Kinshasa und Lagos. Hier sollen dann Themen wie "Rechtssysteme im Wandel und der Prozess der Wahrheitsfindung und Versöhnung" in Neu-Delhi (7.-21.5.), "Creolite und Kreolisierung" in St. Lucia (November), "Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte, Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos" (März 2002) behandelt werden. Das sind durchaus keine Luftblasen, sondern höchst konkrete Themen, und man darf gespannt sein, wie die Öffentlichkeit an den betroffenen Orten auf diese Veranstaltungen reagiert.

Kunst an ihren Entstehungsorten besichtigen

Enwezor, 1997 Leiter der Biennale in Johannesburg, und sein Kurtorenteam (Carlos Basualdo, Susanne Ghez, Sarat Maharaj, Ute Meta-Bauer, Octavio Zaya, Mark Nash) haben offenbar das Anliegen, mehr als nur die westlichen Kunstzentren ins Licht der Kunstöffentlichkeit zu rücken.

Da verwundert es sich nicht, dass sein erweiterter documenta-Begriff auf allgemeine Fragen abzielt, Themen, die überall auf der Welt ihre Gültigkeit haben. Was wird aus Kunst, wenn sie aus ihrem lokalen Kontext herausgerissen wird? Wie können die lokalen Spezifika der künstlerischen Praxis trotzdem erhalten bleiben? Seit die documenta 1972 erstmals von einem freien Ausstellungsmacher organisiert wurde - damals war es Harald Szeemann - sucht jede neue Leiterin, jeder neue Leiter einen neuen Ansatz (Enwezor etwa plant ein Gipfeltreffen der bisherigen documenta-Leiter).

Wie Szeemann und die letzte documenta-Kuratorin, Catherine David, ließ sich der Afrikaner von Beuys erweitertem Kunstbegriff inspirieren: Damals, auf der documenta 5, trug Beuys vehement 100 Tage lang seine Forderung nach direkter Demokratie vor. Catherine David veranstaltete während der Ausstellung den Vortragsmarathon "100 Tage, 100 Gäste" in der Kasseler documenta-Halle. Enwezor dagegen lagert die Theorie - und damit das Sprechen über Politik - zeitlich und räumlich aus. Kassel selbst soll dann im nächsten Jahr eine "manifestation of the ideas of the artists" werden, sagt der Leiter. Dank des vielversprechenden Vorprogramms darf die Zeit ruhig langsam verstreichen.