DIE ZEIT


12/2003

Ausstellung

Ein Hase und seine 100000 Nachbarn

Wiens Albertina ist endlich wieder geöffnet – und will nun für ihre Grafik das große Publikum gewinnen

Von Hanno Rauterberg

Lange war die Albertina eine Welt für sich. Erbaut auf einer Klippe inmitten des urbanen Ozeans, auf einer Restzunge der Wiener Stadtmauer, 11 Meter über den Normalsterblichen. Die glorreiche Sammlung, Rembrandt, Goya, Picasso, 65000 Zeichnungen, eine Million Druckgrafiken – sie waren dem Alltag enthoben, ein selten gezeigter Schatz, zu dem nur gelangte, wer sich über steile Stufen hinaufmühte. Ab dieser Woche nun fährt eine Rolltreppe – der Tempelbezirk öffnet sich dem großen Publikum. Abb.: Katalog

Fast zehn Jahre war die Albertina geschlossen, zehn Jahre, in denen vieles Alte erneuert und vieles Neue dem Alten eingepasst wurde. Es ist die Geschichte einer großen Verwandlung, die dem verwinkelten Bauwerk, einst das größte Wohnpalais Wiens, zwei mächtige Ausstellungshallen abtrotzte und zudem das Wesen der Albertina ummodelte. Aus einem Haus im Halbdämmer wurde ein reger Ausstellungsbetrieb, der angriffslustig auf dem Wiener Markt der Museen mitmischen will.

In den meisten Kunsthäusern führt die Grafik immer noch ein Leben im Verborgenen, man verlacht die Kustoden als Eigenbrötler, drängt sie an den Rand. Und dort fühlen sich viele auch ganz wohl, sie horten und hüten ihre empfindlichen Blätter und scheuen das Licht der Öffentlichkeit. Dass sich mit Grafik auch Hunderttausende Besucher locken lassen, dass sie zum Quotenbringer taugt, glaubt eigentlich niemand – nur die Albertina.

Um schon außen mit eindrucksvollen Schauwerten aufzuwarten, holte man sich den Architekten Hans Hollein ans Haus, bekannt als Lusttäter und Formenjongleur. Mit aller Macht strebte er nach Beschleunigung: Er wollte den Albertina-Tanker in Fahrt bringen und durchlöcherte den Gebäudesockel mit lauter Bullaugen. Eine plumpe Idee, direkt dem verstaubten Spielkasten der Postmoderne entnommen. Auch sein Entwurf für ein Flugdach über dem Eingang wirkt reichlich aufgesetzt. Erst im Herbst wird es fertig werden, bis dahin tüfteln russische Weltraumingenieure noch an der Tragetechnik. Jetzt schon aber ahnt man, dass die Fronten des Palais durch das Riesensegel nicht belebt, sondern entstellt werden dürften. Vielleicht wollte Hollein das Schwere leicht machen, vielleicht wollte er ein Symbol bauen, das die altehrwürdige Albertina zum Abheben bringt. Doch opfert er dafür das intakte Bild, rüde brüskiert er das Bestehende. Das mag einen Wiener erfreuen. Gerade die hiesigen Künstler leben oft in dem Gefühl, die Stadt sei erstarrt und musealisiere sich selbst. Den auswärtigen Besucher hingegen irritiert Holleins Gerangel zwischen Tradition und Modernismus. Und ihn beschleicht das mulmige Gefühl, auch im Inneren könnte die Albertina nur noch Bühne sein, auf der sich die Selbstdarstellungsgelüste der Gegenwart austoben.

Tatsächlich fühlt man sich in den Eingangsräumen wie in einem neuen Museum: Wände und Boden aus poliertem Travertin, schmucklos, glatt; ein riesiger Museumsshop zur Rechten, in schwarzem Holz und mit großen Kugellampen; zur Linken das mondäne Restaurant mit der Bar aus Palisanderholz, mit türkischem Marmor und flaschengrünen Glastischen. Ist das noch die Albertina? Oder ein dreidimensionales Lifestyle-Magazin mit Kulturbeilage?

Zum Glück verflüchtigt sich der erste Eindruck rasch. Nur jene Teile des Palais sind entkernt, die von Bomben zerstört und nach dem Krieg nachlässig wiederhergestellt worden waren. Die wertvollen Gemächer hingegen und die Säulenhallen hat man mit Hingabe und Akribie renoviert.

Erstmals überhaupt sind diese Prunkräume nun für das Publikum zugänglich, lange wurden sie als Archiv und Verwaltungsräume genutzt, nur die Kustoden hatten Zugang. Nun darf ein jeder kommen und staunen über die nachgewebten Seidentapeten in krachend Rot und beißend Grün, über die luftigen Schmuckgirlanden an der Decke, über den ungeheuren Ehrgeiz, der aus jeder Zierleiste spricht. Es sind klassizistische Dekore aus der Zeit um 1800, die man in dieser Form sonst nirgends in Wien findet. Die wenigsten mochten sie, diese französische Kunst, und hielten sich lieber an Barock und Biedermeier. Ursprünglich waren die Interieurs auch gar nicht für die Albertina geplant gewesen, sondern für das Schloss Laken bei Brüssel. Dort war Herzog Albert von Sachsen-Teschen, der sammelnde Urvater der Albertina, als Gesandter tätig, und als er zu einem Wechsel nach Wien gezwungen wurde, nahm er seine Einrichtung mit. Für Albert war die französische Kultur, war die Aufklärung kein fremdes Projekt. Seine ganze Kunstleidenschaft zielte darauf, ähnlich wie Diderot eine Enzyklopädie zu versammeln, ein Universum der Grafik. Aus allen Epochen, aus allen Ländern trug er die kostbarsten Blätter zusammen, eine dichte, beeindruckende Sammlung entstand – aus Schaulust und aus Wissensdurst. Die Kunst sollte ein Sehvernügen sein und zugleich bilden und erziehen.

Als Alberts Nachfolger, zumindest im Geiste, versteht sich Klaus Albrecht Schröder, der seit drei Jahren das Museum leitet und zuvor Direktor des Bank Austria Kunstforums war. Er ist ein Mann, dem viele Populismus vorwerfen, weil er den großen Zuspruch sucht. Manche halten ihn gar für die europäische Ausgabe von Thomas Krens, dem Chef des New Yorker Guggenheim-Konzerns. Das mag daran liegen, dass wenige Museumsmenschen so selbstbewusst für sich und ihre Sache werben wie Schröder. Unbeirrbar hat er den komplizierten Umbau durchgefochten, hat einen Tiefspeicher für die Kunst und schöne, lichte Arbeitsräume für seine Mitarbeiter durchgesetzt (Architekten Steinmayr und Mascher). Und er hat große Sponsorengelder eingetrieben, viele Millionen Euro, dank derer die Sanierung der Wohnräume des Adels erst möglich wurde.

Doch verraten hat Schröder die Kunst nicht. Gerade weil er sich dem Albertschen Bildungsideal verpflichtet fühlt, will er die Grafik den Geheimniskrämern entziehen und sie zum Massenmedium machen – ohne sich indes den allgemeinen Erwartungen zu beugen. Nicht die Lieblinge zeigt Schröder zur Eröffnung, keine Auswahl der größten Glanzstücke. Vielmehr will er beweisen, dass seine Sammlung in der Gegenwart angekommen ist, und rückt Edvard Munch in den Mittelpunkt, ebenso wie Robert Longo und die Fotografie des 20. Jahrhunderts. Natürlich stehen auch die Klassiker auf dem Programm, alle werden sie in den kommenden Jahren zu sehen sein, Rubens, Rembrandt, Goya, Michelangelo. Bereits im Herbst eröffnet eine gewaltige Dürer-Ausstellung, eine ganz andere als jene, die just in London gezeigt wurde. Dort waren ausschließlich Grafiken zu sehen, und von solchen Monokulturen möchte Schröder nichts mehr wissen. Er mischt Gemälde und Kupferstiche, hoffend, dass sich beide gegenseitig beleben. In der Munch-Ausstellung gelingt dies recht gut, nur selten einmal überstrahlen die traurig-wogenden Ölfarben ihre kleineren, gedruckten Nachbarn. Geschickt setzt Schröder auf eine punktgenaue Ausleuchtung, die jedem Bild das angemessene Licht gibt. Und er lässt seine Grafiken aufwändig neu fassen, mit sanft gefärbten Passepartouts und Goldrahmen. Selbst Blätter, die sonst arg bescheiden und hinfällig wirken, bekommen plötzlich Halt und können sich gegen die starke Gemäldekonkurrenz behaupten. Schröder ist ein großer Vermarkter, gewiss. Doch auch für die Details macht er sich stark. Anders als Hollein hat er eine Balance aus Alt und Neu gefunden.

Schröders Vorgänger neigten dazu, vor den Nachteilen ihrer Sammlung zu resignieren, vor den kleinen Formaten und der Lichtempfindlichkeit. Sie gingen auf Nummer sicher und zeigten eine permanente Ausstellung mit Faksimiles der berühmtesten Motive. Schließlich würden die Laien den Unterschied ohnehin nicht bemerken, so die verbreitete Meinung. Schröder hält das für grotesk. Statt Abklatsch zu präsentieren, wendet er den Nachteil zum Vorteil und erhebt die Abwechselung zum Prinzip – alle drei Monate sollen gleich drei neue Ausstellungen eröffnen. Dürers Feldhase, die Ikone der Sammlung, will er im Herbst noch einmal zeigen und dann dreißig Jahre nicht mehr. Die Sammlung ist so tief und breit, dass sich immer wieder Neues hervorbringen lässt. Seit kurzem sogar Fotos, die in einer eigenen Abteilung gesammelt werden.

Mit dieser Strategie, das Schwache zu stärken und das Kleine groß zu machen, sucht Schröder den Erfolg – und wird ihn wohl finden. Es sei denn, er scheitert eben daran: am Erfolg. Mehr Ausstellungshäuser als in Wiens Innenstadt gibt es nirgends auf einem Fleck, akut droht die museale Überhitzung. Nun treibt die Albertina die Temperatur noch höher. Und niemanden würde es wundern, wenn das Publikum sich bald in kühlere Gefilde zurückzöge.

„Edvard Munch – Thema und Variation“, bis 22. Juni; der Katalog kostet 28,- Euro. „Auge und Apparat – eine Geschichte der Fotografie“, bis 8. Juni; der Katalog kostet 26,- Euro. „Robert Longo – The Freud Drawings“, bis 8. Juni; der Katalog kostet 25,- Euro