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11.08.07
Spiegelbilder im Fridericianum
documenta 12: Weder Spektakel, noch Partykulisse, nicht einmal Leistungsschau
Von Marion Pietrzok
Es ist – nur umgekehrt – wie mit fremden Vokabeln: Man ahnt oder weiß,
was sie bedeuten, doch mit der Aussprache klappt’s einfach nicht. So
ist bildende Kunst: Man erfasst ihr Äußeres: groß, klein, rund eckig,
aus Stein, aus Papier, gemalt, gefilmt – nicht aufzuzählen in ihrer
Vielfalt. Man kann ein einzelnes Werk beschreiben, vielleicht noch
einer Kunstrichtung, einem Stil zuordnen, aber danach fängt es schon
an: Überspringt man die Frage, warum etwas Kunst ist, beginnen die
Schwierigkeiten damit zu erklären, was sie mit einem macht, warum sie
wie wirkt. Das eigene Unvermögen mag niemand sich recht eingestehen,
zumal bei einer bedeutsamen Schau. Beispielsweise der derzeitigen
Kunst-Großveranstaltung documenta 12, kuratiert von Roger M. Buergel
und seiner Frau Ruth Noack. Mit
dem wie immer die Schau verbrämenden theoretischen Schillern, verpackt
in griffige Formeln, fühlt sich erst einmal alles, was sich
Bildungsbürgertum nennt, angezogen. Der Event-Charakter der
100-Tage-Weltkunstschau, das Dabeigewesensein-Müssen, das
Gesehenhaben-Müssen lockt aber auch ein Publikum, das zugibt, der
Kunstwerkerklärung bedürftig zu sein. Buergel macht es ihm leicht: Ein
»Nicht-Verstehen wird keinesfalls als Unfall erachtet«, der Besucher
soll erfahren, dass auch »das Wissen-Wollen wichtig ist«. Das scheint
sich herumgesprochen zu haben. Nach dem – durch strikte Geheimhaltung
der Künstlerliste stark geschürten – Auftaktinteresse (allein rund 4000
Journalisten waren zur Eröffnung akkreditiert) und dem medialen Echo
auf zwei, drei Pannen blieb es fortan merkwürdig still um die d12.
Manch einer sah das Ausstellungsprojekt für gescheitert an. Doch es
scheint, hat man die rekordverdächtige Besucherzahl von rund 330 000
zur Halbzeit am 4. August vor Augen, die Demokratie-Utopie der d12
findet Anklang. Nämlich bei denen, auf die es Buergel und Noack ankam.
Das derzeitige, von Studiosus-Reisen vor Gericht gebrachte Gerangel um
die Kompetenz, Besuchergruppen zu führen, ist ganz unter dem
pädagogischen Ansatz der d12-Macher und zu ihrem Gunsten zu sehen:
»Jenseits von starrer Belehrung« soll jeder Besucher einen persönlichen
Zugang zur Kunst haben dürfen. Und das Kuratorenpaar greift explizit
den Bildungsgedanken Schleiermachers auf. Wenn der Kunstinteressierte
da etwa Zuflucht in vorgeordneten, vorgedachten Wahrheiten sucht, wird
er vor allem sich selbst erfahren, stutzen oder schockiert sein und
bemerken, »dass er als Individuum Einfluss auf die Welt hat«. O,
wie nahm man den Ausstellungsmachern übel, dass sie, fern der üblichen
Gepflogenheiten, nicht die durch kunstmarktorientierte Verabredungen zu
Stars hochgepushten Künstler auf der weltweit wichtigsten
Kunstausstellung präsentieren. Stattdessen bietet die d12 vor allem
einen Blick auf die »Peripherie«: auf Asien, Afrika, Südamerika, gar
Osteuropa. Deren – und somit auch unsere – Probleme sind wie nie zuvor
in den Focus gerückt worden. Wenn dann Werturteile gefällt werden wie
»Katastrophe« oder »schlechteste Ausstellung aller Zeiten«, weiß man,
woher der Wind weht: Die schlechte Luft aus abgewandtem Körperteil
verbreiten euro-amerikanische Egozentriker, die durch die Auswahl von
überwiegend unbekannten Künstlern in ihrem
Nabel-der-Welt-Selbstverständnis gekränkt sind. Das entsprechende
Auf-Stumm-Schalten der Medien hat jedoch ihren Gegenpart nicht nur im
starken Besucherstrom, sondern auch in der Nutzung der verschiedenen
Kunstvermittlungsaktivitäten. Zu denen gehört zum Beispiel ein Programm
mit russisch-deutschen Frauen oder mit Arbeitslosen im »Salon des
Refusés«. Es macht die d12 sympathisch, dass sie sich so gar nicht um
die Erwartungen der Etablierten der Kunstszene schert. Dass sie es
ernst meint mit der Kunst als Mittel der Welterkenntnis. Ein großes
Ätsch, nichts da mit Spektakel und Partykulisse, zu der solcherart
Schauen sonst von den schönen und reichen Eitelkeiten
herunterpräsentiert werden. Wenn denn ein Sammler die Schau langweilig,
humor- und belanglos schilt, dann wohl vor allem aus Sorge um die
eigenen Pfründe. Das hört sich an wie Gekläff eines beleidigten
Wadenbeißers. Auch manch Galerist sieht seine – teuren – Felle
davonschwimmen. Was der Besucher sieht: An Front und Seite des
Fridericianums, dem angestammten, jetzt aber nicht zentralen
documenta-Ausstellungsort, eine seltsame Fassadendekoration. Schlanke
Stahlrohre mit meist durchsichtigen, flügelähnlichen
Polycarbonatplatten mäandern um die Ecke in Höhe des ersten Geschosses
in einen Hauptraum des Gebäudes hinein, wieder heraus. Es ist Iole de
Freitas' kühner Schwung durch Herkömmlichkeiten: Architektur,
physikalische Gesetze, einengende Normen werden durchbrochen, nicht
akzeptiert. Aber auch ohne jede Sinnbeigabe ist die Installation, was
Kunst nach Buergel auch sein sollte: zweckfrei schön. Sie kann
betrachtet, muss nicht bedacht werden. Ob Zufall oder nicht, dass es
eine Frau ist, eine Brasilianerin, die hier die d12-Besucher begrüßt –
symbolisch kann man es wohl nennen: Die Hälfte der 113 teilnehmenden
Künstler sind weiblich. Die eigentliche Schule der Wahrnehmung
beginnt in der Eingangshalle des Fridericianums. Sie ist nicht
zugestellt wie bei früheren documentas, sondern links und rechts
verspiegelt. Was man erblickt, ist, dem Motto der d12 entsprechend, das
eigene Spiegelbild: Man ist selbst der Hauptdarsteller der Kunst. Worum
immer es geht auf der Welt, man ist auf sich selbst zurückgeworfen, von
der eigenen Entscheidung hängt alles ab. So wenig Konsumismus war nie
auf einer documenta seit Josef Beuys. Gerade in dem neu und nur
für die Zeit der d12 erbauten Aue-Pavillon mit seiner Anmutung eines
labyrinthischen Warenlagers wird deutlich, wie sehr die Kuratoren mit
den Kunstbetrieb- und -markt-Regeln brechen wollten. Es gehört schon
Böswilligkeit dazu, an dieser Ausstellungsinszenierung im Pavillon, der
die größte Anzahl der d12-Werke versammelt, herumzukritteln. Wem es ums
Wesentliche geht: Um einen Blick auf Romuald Hazoumés Flüchtlingsboot
aus alten Plastik-Benzinkanistern »Dream« vor Fototapetenpanorama kommt
niemand herum. Es steht unaufgeregt da in seiner Großräumigkeit, solide
gearbeitet. Die Idylle, die der international erfolgreiche Künstler aus
Benin ausstellt, ist trügerisch: Die Kanister sind löchrig. So entlarvt
er das verheerende Flüchtlingselend in Afrika. Ebenso unübersehbar,
metaphern- und zeichen-trächtig John McCrackens »Minnesota«
beispielsweise, eine monolithische Skulptur mit überraschender
Oberflächenbearbeitung, die an den Obelisken in Stanley Kubricks »2001:
Odyssee im Weltraum« denken lässt. Und wie er, glatt, schön,
geheimnisvoll, da im Pavillon – Stichwort: Kramladen – wie von einer
außerirdischen Macht hingewürfelt steht, hat das auch durch diese
Assoziation durchaus seine Berechtigung. Von ähnlich archaischer
Wucht der in der Neuen Galerie an eine Saalfront wandhoch projizierte
Videofilm des Iren James Coleman »Retake with Evidence«, ein Monolog
mit Harvey Keitel als Darsteller. Coleman, zum vierten Mal zu einer
documenta geladen, gibt eine philosophisch angelegte Theoriestudie über
die Wahrnehmung der Erinnerung. Buergel ist nicht auf den Zug der Zeit
gesprungen, die im Film ihr wichtigstes bildkünstlerisches Medium hat.
Er lässt den Film dort, wo er seiner Meinung nach hingehört: im Kino.
Das umfangreiche Programm im Kasseler Bali wird von den Besuchern gut
angenommen. Damit setzt er sich auch ab von seinem Vorgänger, d11-Chef
Okwui Enwezor, der ohne Rücksicht aufs Zeitbudget eines
documenta-Besuchers ein zwar gehalt-, aber übervolles Film- und
Videoprogramm zuungunsten der anderen Arbeiten bildender Kunst anbot.
Doch der Macht der bewegten Bilder kann man sich nicht entziehen. Die
wenigen Videoarbeiten, die auf der d12 gezeigt werden, gehören zu den
Kunstwerken, die am stärksten beeindrucken. Haroun Farockis »Deep Play«
etwa. Auf zwölf synchronisierten Monitoren im Fridericianum wird das
Endspiel der letzten Fußball-WM aus verschiedenen Kameraperspektiven,
mit Spielflussanalysen und animierten Sequenzen »nachgespielt«. Auf der
Tonspur u.a. der originale Polizeifunk. – Ein Spiel um alles. Oder um
nichts. Ins »El Dorado« aus dem Blickwinkel von Kasseler
Migrantenkinder verschiedener Kontinente gelangt man, in räumlicher
Nähe zu den Alten Meistern, auf Schloss Wilhelmshöhe. Danika Dakics
Medieninstallation ist eine der zahlreichen Arbeiten der d12, die sich
direkt mit Kasseler Gesellschaftswirklichkeit auseinandersetzen. Die
Einbeziehung von alter Kunst, von Schätzen, die die kulturelle Wiege
unserer Zivilisation bedeuten, ist übrigens ein documenta-Novum. Mit
teils verblüffendem Effekt im Verhalten des Publikums. Persische
Kalligrafien etwa oder ein orientalischer Teppich werden wie
Gegenwartskunst betrachtet. Oder umgekehrt, die zeitgenössischen Werke
werden wie alte bestaunt. Tatsächlich bekommen sie in nobilitierter
Umgebung eine besondere Aura. Nebenbei hat Buergel dadurch dem seit
Jahren geführten Diskurs über Rolle und Möglichkeiten von Museen heute
einen interessanten Akzent beigefügt. Museen leben, sind keine
Abstellkammern voll Gerümpel, das uns nichts mehr angeht. Und wenn man
sie aufsucht, Jahrhunderte und Kunstepochen durcheilt, muss man nicht
die Kunst verstehen, aber wird reicher durch die Auseinandersetzung mit
ihr. Das Synonym für documenta war bislang »Leistungsschau«. Da wurde
gefragt, welche Arbeiten künstlerisch stärker oder schwächer sind. Bei
der d12 hat sich das erübrigt.
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