09.12.2002 20:20
Scherenschnitt mit Anliegen
Kara
Walker-Personale im Museum Moderner Kunst - Die Künstlerin läßt Europas böse
Geister schwarz auf weiß tanzen
Wien - Früher einmal trugen viele Künstler stets eine
kleine Schere bei sich, um allzeit schnittbereit zu sein: Hans Christian
Andersen etwa, oder auch Philipp Otto Runge. Sie waren die Speerspitze des
bürgerlichen Lagers, das zum Zeitvertreib Scherenschnitte anfertigte, hübsche
Porträts im Profil, nette Muster und Ornamente.
Die meisten davon noch
erhaltenen Arbeiten sind weder signiert noch datiert. Der Scherenschnitt
entwuchs der Kunstfertigkeit des anonymen Dilettanten. Kara Walker, 1969
geborene Afroamerikanerin, nutzt diese schwarz/ weiß-Technik um die Allgegenwart
des Rassismus anzuprangern. Ihr brandabweisender Pausenfüller riss 1998 das
Wiener Opernpublikum aus seinen, an Rudolf Eisenmengers Eisernem Vorhang
erworbenen Sehgewohnheiten. Jahrhunderte des Wohlbehagens am dramatisierten
Exotismus rächten sich an den Freunden abendländischen Kulturgenusses. Walker
ließ Europas böse Geister tanzen, Orpheus, Eurydike und auch den Meinl-Mohren.
Sie warte, betont sie ihre Wachsamkeit, jederzeit "gespannt auf den
unabsichtlichen Affront, die rassistische Bemerkung." Und findet denn auch
Material genug, Stereotypen an allen Ecken und Enden. Ihre 27-teilige
Siebdruckfolge "The Emancipation Approximation" steht im Mittelpunkt der
Kara-Walker-Personale mit Arbeiten aus der Sammlung der Deutschen Bank, die
derzeit im Wiener Museum Moderner Kunst Station macht.
Oft grotesk
überhöht, ironisiert, bzw. recht plakativ reduziert, führt sie in Panoramen vor,
dass längst nicht alles eingelöst wurde, was Abraham Lincoln mit der
"Emancipation Proclamation" von 1863 ausrufen ließ. Von Gleichberechtigung keine
Rede. Immer noch sorgt die angeblich so animalische Sexualität der schwarzen
Frau ungestraft für feuchte Träume weißer Männer, besteigt der weiße Schwan
listenreich und geifernd die schwarze Frau. Und der "fröhliche Neger" bläst dazu
weiter munter in sein Saxophon. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2002)