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Absage an den westlichen Kunstblick

Alle fünf Jahre blickt die große Kunstwelt 100 Tage lang auf das kleine Kassel, gilt die Documenta doch als die wichtigste Ausstellung der Welt.

KASSEL. Okwui Enwezor, 39-jähriger Nigerianer mit amerikanischem Pass, ist der erste nichteuropäische Macher einer Documenta. Vor wenigen Wochen hat ein bekannter Feuilletonist geäzt, für Enwezor sei der Künstler der leibhaftige Teufel, und dementsprechend präsentiert sich auch die Monsterschau, die an vier Ausstellungsorten 118 Künstler aus fünf Kontinenten vereint.
Doch Spektakuläres ist bei der Documenta Nr. 11 kaum zu finden, wenige große Namen, kaum opulent zelebrierte Sinneslust. Denn nicht der Augensex, die kunstvoll subjektive Metapher interessiert den Ausstellungsmacher, sondern die Frage nach dem tiefen Riss, den der Imperialismus in unserer postkolonialen Welt hinterlassen hat. Für Enwezor ist der Künstler das soziale Gewissen der Gesellschaft, der Archäologe der jüngsten Vergangenheit. Er räumt in der Kasseler XXL-Schau aber auch gründlich mit der Überheblichkeit des westlich definierten Kunst-Blicks auf. Nicht umsonst kommt mehr als ein Drittel der Künstler aus Ländern der Dritten Welt.

Eine transnationale, transmediale und die Generationen verbindende Ausstellung sollte die Documenta 11 laut Enwezor werden und so etwas wie eine Unterweisung in Sachen Erd,- Volks- und Sozialkunde ist sie auch geworden. Viele Schwarzräume mussten für die Präsentation kühl dokumentarischer Bilder aus südafrikanischen Homelands, Pariser Vorstädten, Grönland, Ruanda oder von der mexikanischen Grenze in die white cubes hineingebaut werden. Nur selten mischt sich ästhetisch aufgeladenes Pathos - wie in Shirin Neshats schönem Film - unter die emotionslosen Recherchen kollektiver oder privater Verletztheit.

Die Arbeiten von Frauen hinterlassen bei der heurigen Documenta den nachhaltigsten Eindruck. So ist die Ikone der feministischen Kunst, Louise Bourgeois, mit einer ihre eigenen Wunden leckenden Installation präsent, während die Kubanerin Tania Bruguera in ihrer alle Sinne beanspruchenden Arbeit um Macht und Widerstand kreist. Ein wohltuend archaischer Minimalismus prägt die Handschrift der Kolumbianerin Doris Salcedo. Ein skurriles Horrorkabinett aus Plüschtieren hat dagegen die Französin Annette Messager aufgebaut: Fragmente einer Menschheit, deren Dasein aus Unterdrücken und Unterdrücktwerden besteht.

Schwach vertreten ist in Kassel Österreich. Allein die Wiener Fotografin Lisl Ponger hält mit ihrer im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Genua entstandenen Fotoserie die rot-weiß-rote Fahne tapfer hoch.

Humor wird bei der Documenta 11 sehr klein geschrieben, findet sich am ehesten in einer Reihe von Assemblagen. Etwa in einer mit Fundstücken vollgestopfte Rumpelkammer von Fluxus-Altmeister Dieter Roth, in dem nach Kassel übersiedelten Atelier von Ivan Kozaric, der krausen Installation von Afrikanischem und Europäischem von Georges Adeagbo. Sinneslust verströmen dagegen die kopulierenden, aber kopflosen Puppen des Londoners Yinka Shonibare. Er nimmt koloniale Muster ironisch aufs Korn, indem er seinen Puppen Kostüme des 18. Jahrhunderts aus afrikanischen Stoffen von heute geschneidert hat.

Gemaltes findet man bei der heurigen Documenta nur wenig. Der achtzigjährige Amerikaner Leon Golub ist mit expressiven Bildern körperlicher Gewalt allerdings höchst präsent. Einer, der sich Enwezors Konzept einer politisch korrekten Kunst bewusst verschlossen hat, ist der Belgier Luc Tuymans. Noch bei der letztjährigen Biennale von Venedig setzte er sich in einer Bilderserie mit der kolonialen Vergangenheit seines Landes auseinander, um für Kassel ein völlig traditionelles riesiges Früchtestillleben zu malen.
2002-06-09 17:58:04