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11. August 2008
11:20 MESZ

Zu den Personen:

Weiterführende Informationen:

 

Zeitgenossen (1999-2006): Startseite zur multimedialen Webtrilogie in gegenwärtigen, zukünftigen und vergangenen Welten.




Binary Art Site (1999-2001): Mehrdimensionales Forschungsprojekt über Neue Medien - Euphorie und Technologiekritik.




Outer Space IP (2001-2003): Hommage an Stanley Kubricks "2001: A Space Odissey" und Vision über zukünftige Lebenswelten.





Phantasma (2003-2006): Reflexion über die Wiege der abendländischen Kultur und interaktive Wissensvermittlung.







Ausstellungs- und Installationsansichten vom FILE-Festival 2008 (Electronic Language International Festival) in Sao Paulo, Brasilien.





Eine virtuelle Geisteshaltung
Die Webtrilogie "Zeit­genossen" wird bis Ende August in São Paulo gezeigt - Damit beginnt die Retrospektive des 2006 ver­storbenen Medien­künstlers Zelko Wiener

"Misst man sie an der Menge des Textes, so sind die Zeitgenossen keine Literatur", stellt Ursula Hentschläger lachend in ihrem Atelier fest und klickt durch den an die Wand projizierten digitalen Bildkosmos, den sie gemeinsam mit ihrem Partner Zelko Wiener von 1999 bis 2006 entwickelt hat. Vor kurzen noch befand sich die Künstlerin und Autorin mitten in den letzten Vorbereitungen für das finale Update von Phantasma, dem dritten und letzten Teil ihrer Webtrilogie: Fotografien mussten noch auf die Flash-Seite geladen, einige Animationen eingestellt und ein paar der zahlreichen Erzählstränge neu geordnet werden.

Nach dem unerwarteten Tod Zelko Wieners im Herbst 2006 wird das "audiovisuelle Gesamtereignis" nun beim International Electronic Language Festival (FILE) in São Paulo gezeigt. "Die Zeitgenossen haben ihre endgültige Präsentationsform gefunden", zeigt sich Ursula mit gemischten Gefühlen bewusst darüber, dass diese Endgültigkeit auch den Beginn eines neuen Lebensabschnitts für sie bedeutet. Im Zentrum des mehrdimensionalen Universums der Zeitgenossen steht die interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Thema Information und seinen unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen, die sich in einer ganz eigenen Dramaturgie aus Texten, Bildern, Grafik und Sound dem Internet als zweite - wenn man so möchte: alternative, besser: parallele - Lebenswelt annähert.

Transdisziplinär

Diese mediale Mischung ist auch der Grund, warum sich die Zeitgenossen kunstphänomenologisch nicht leicht beschreiben lassen: Die Kriterien der Literatur funktionieren zur Einordnung der animierten Texte und audiovisuellen Experimente mit Buchstaben, Schrift und gesprochener Sprache; auf die ausgeprägte Visualität der Webkunst lässt sich mit den Parametern der bildenden Kunst referieren; die Soundkomponenten können mit dem Vokabular der Musik und die allem innewohnende Interaktivität mit dem der performance-orientierten Künste beschrieben werden.

Zelko Wieners frühe opto-akustische Kompostionen und seine Experimente mit Netzwerken in Zeiten, als noch niemand vom Internet sprach, werden in der Trilogie genauso neu definiert und reorganisiert wie Passagen aus Ursula Hentschlägers medientheoretischer und literarischer Tätigkeit als Science-Fiction-Autorin. Die Folge daraus: Digitale Kunst, die sich mit sozialkritischer Fotografie und der medienimmanenten Beschäftigung mit Phänomenen wie der Simulation und Konstruktion von alternativen Wirklichkeiten paart. Eine eindeutige Klassifikation scheint aber auch gar nicht wichtig zu sein. Im Gegenteil, die Zeitgenossen sind ein Versuch, die bekannten Beschreibungsmodelle von Kunst zugunsten einer "echten" interdisziplinären Sprache aufzugeben. "Medienkunst hat keine eindeutige Handschrift", so Ursula Hentschläger, die ihre zeitbasierte Webtrilogie als Reflexion über das jeweils aktuelle Zeitgeschehen versteht. Es geht also um das Nivellieren von Kategorien wie Text, Bild und Klang, die zuerst anhand des binären Programmcodes auf eine einzelne Informationsebene heruntergebrochen werden, um später in ihrer Ausgabe - also auf dem Bildschirm - in einem Gesamtwerk zu verschmelzen.

Theoretisch

Mit einem Klick auf die Startseite des Kunstwerks, begegnet der User zuerst drei Avataren, die durch das Labyrinth aus Codes, Formen, Texten und Sounds navigieren. Diese "Zeitgenossen" öffnen je ein Fenster, durch das man von der Gegenwart in die Zukunft und zurück in die Vergangenheit springen kann. Die Binary Art Site (1999-2001) gibt sich von diesen drei Zeitebenen als textlastigstes Stück: Neben dem interaktiven Spiel mit visueller Poesie und politisch-poetischen Statements zum Zeitgeschehen widmet sich diese Website aber auch ganz explizit dem Informationsbegriff. Kybernetik, unterschiedliche philosophische Strömungen, Quantenphysik und Computerwissenschaft werden hier aufgegriffen, um sich im Essay "Vom Bit zum Qubit" als Gegenwartsbild des damals, 1999, noch relativ jungen künstlerischen Schaffens im Internet zu präsentieren.

Das Spiel und Experiment mit der Synchronizität von Text, Bild und Klang, das in der Binary Art Site begonnen wurde, setzen die Zeitgnossen in der Outer Space IP (2001-2003) als Hommage an Stanley Kubriks "2001: A Space Odyssey" fort. Im Zentrum dieser als Raumstation designten Landschaft steht die Interaktion mit einfachen grafischen Formen. Mit dem Bewegen der Kreise, Sterne und sonstigen Gebilde werden gleichgeschaltete gesprochene Texte so lange abgerufen, wiederholt und mutiert, bis sich schließlich eine vom User gesteuerte vokale Rhytmik innerhalb einer völlig außerhalb ihrer eigenen Grenzen befindlichen - neuen - Sprache entdecken lässt.

Angewandt

Die Binary Art Site und die Outer Space IP verdichten sich schließlich im dritten und seit kurzem vollständig online abrufbaren Zeitfenster mit dem Titel Phantasma (2003-2006). Hier machen sich die Zeitgenossen auf die Spuren der griechisch-römischen und ägyptischen Kultur. Das Phantasma, ein in den Ruinen eines verlassenen Betongebäudes angesiedeltes "Programm", steht als Metapher für die Vergänglichkeit, nicht zuletzt jener künstlerischen Sprache, die bereits in den beiden früheren Arbeiten in einer Endlosschleife zerlegt und sukzessive wieder aufgebaut wurde. Die Melodie der deutschen, englischen, griechischen und arabischen Sprachfragmente, die vom User bearbeitet werden können, reizen das Konzept einer "narrativen Dekonstruktion" bis aufs Äußerste aus. Es öffnen sich Denkräume, die ein Netzwerk aus Expertengesprächen und persönlichen Statement über die Geschichte der westlichen Gesellschaft aufbauen und durch Visualisierungsstrategien unterstreichen. "Mit unserer Kunst haben wir versucht, eine interaktive Kulturwissenschaft zu betreiben", erläutert Ursula Hentschläger und ist sich dessen bewusst, dass man sich zuerst auf die Arbeiten einlassen muss, um in die "visualisierten Seinszustände und Geisteshaltungen" einzutauchen.

Retrospektiv

Als Einzelstücke wurden die drei Kunstwerke der Zeitgenossen bereits mehrfach ausgestellt: in unterschiedlichen Settings wie etwa bekannten Medienkunstfestivals, Kunstmessen, aber auch an so ungewöhnlichen Orten für Medienkunst wie der Staatlichen Antikensammlungen und Glyptothek München. Die Titanen, eine paritätisch aufgeteilte Gruppe von AvatarInnen war auch als Kunst im öffentlichen Raum auf der Fassade des Linzer Ars Electronica Centers zu sehen. "Alle drei Arbeiten in ihrer endgültigen Form, wurden aber noch nie an einem Ort gezeigt", so Ursula Hentschläger, für die das FILE-Festival in Brasilien gleichzeitig Abschluss und Neubeginn ist. Die Ausstellung und das begleitende Symposium sind der erste Schritt in der Aufarbeitung Zelko Wieners und ihres gemeinsamen Werks, das in den kommenden beiden Jahren als Archiv und Publikation auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden soll. Ein Stück elaborierter österreichischer Medienkunstgeschichte, dessen "Maß der Freiheit sich an der Weite des Blicks" misst. (fair, derStandard.at, 11.08.2008)

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