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Nach der Documenta
Brot für die Künstler, Spiele für das Publikum
VON ULF ERDMANN ZIEGLER

Den bildenden Künstlern geht es gut. Die Akademien boomen. Galeristen jagen über Semesterausstellungen; Abschlussklassen stellen gleich im Museum aus. Die jüngeren Messen haben sich gehalten, die Traditionsmessen brummen. Egal welcher Markt gerade in Schwierigkeiten gerät, wo sich Geld unbekannter Herkunft staut, in der Kunst ist es immer gut angelegt: auf Auktionen für ein Hauptwerk verschossen; ein paar Scheine beim 28jährigen im Atelier gelassen.

Dem Publikum dagegen geht es schlecht. Es soll fressen, was auf den Tisch kommt. Galerien sehen zunehmend aus wie Gemischtwarenhandlungen; ernsthafte Retrospektiven sind rar geworden; hochnäsige Kuratoren bestellen mit Riesenbudgets Riesenausstellungen mit einer Halbwertszeit von einem Jahr.

Selbst eine vergebliche Anstrengung wie die Documenta 12 wird von Kritikern mit Samthandschuhen angefasst: die Süddeutsche, die FR, die FAZ, Die Zeit, die New York Times - alle haben sich größte Mühe gegeben, aus raren Blüten Honig zu saugen. Monatelang hatte ein eloquenter Kurator intellektuelle PR gemacht für ein Aby Warburgsches Projekt, den motivischen Abgleich von Fundstücken und Fundstellen. Das Prinzip lebt von der Verkleinerung, vom Wegnehmen der Farbe, von der Darstellung im Zweidimensionalen. Roger Buergel denkt wie ein Archivar: "Und so kommt Peter Friedls tragische Giraffe aus einem Zoo im palästinensischen Westjordanland neben einem iranischen Gartenteppich aus dem 18. Jahrhundert zu stehen." Ein heißer Gedanke, in der Ausstellungspraxis heiße Luft.

Denn Kunstwerke leben aus sich selbst oder sie leben gar nicht. Ein Liebling dieses Sommers in Kassel war eine begehbare Skulptur an der Schönen Aussicht, die mit einem großen und einem kleineren Stahlrahmen in die Aue-Landschaft weist. Die "provisorische Architektur" des österreichischen Duos namens Haus-Rucker-Co wurde 1977 installiert. Die außerordentliche Aufmerksamkeit für den "Rahmenbau" (so der Titel der Arbeit) kam daher, dass die Documenta 12 im Stadtraum nichts zu bieten hatte. Etliche Besucher glaubten, das Werk wäre frisch!

Nicht, dass Kuratoren überflüssig wären. Seit der Gründung der Biennale von Venedig 1895 fragte man sich, wie man an hervorragende zeitgenössische Künstler herankommt: Lädt man, von Italien aus, Individuen ein? Nimmt man Bewerbungen entgegen? Beauftragt man hochaktive Künstlerverbände (München, Berlin...), die Auswahl vorzunehmen? Die glückliche Wendung für Venedig bestand in der Bebauung der Giardini mit nationalen Pavillons. Das nationale Prozedere der Ernennung ist bis heute sehr unterschiedlich, aber letztlich hat jeder Pavillon für jede Biennale einen "Kommissar". Zusätzlich gibt es für das Gesamtgeschehen einen Kurator; dieser gab zum ersten Mal 1968 ein Thema vor: "from nature to art, from art to nature". Aber die nationalen Kuratoren sind an nichts gebunden. Daher die unglaubliche Vitalität und Vielfalt der Biennale, die mit temporären nationalen Pavillons jedes Mal bis weit in den Stadtraum wuchert. Der "Pavillon" ist hier Metapher: In Wirklichkeit sind es umgenutzte Gebäude, Kirchen, Schulen, Kontorhäuser. Der Kontrast - die Kitschfassade des Tourismus, die erschlossene und gedeutete Stadt der Cogniscenti - könnte größer nicht sein. Die Architekturbiennale und das Filmfest ergänzen das unwahrscheinliche Panorama internationaler Aktivität; das Wahrzeichen des Löwen als Versprechen.

Ein numerischer Zufall will es, dass die Biennale, die Documenta und die SkulpturProjekte Münster sich in diesem Sommer zum Vergleich angeboten haben. Die beiden deutschen Schauen waren einst von Kuratoren erfunden worden. Arnold Bode richtete als alleinherrschende Majestät die Documenta 1955 aus, die ab 1959 gezählt wurde. Bei der d4 kam es zum Eklat um das "Museum der 100 Tage" - Bodes Begriff von Hochkultur, süffisanterweise verkörpert in der PopArt.

Der Schlüssel zur Zukunft

Seitdem ist die Wahl des Kurators - der Kuratorin - der Schlüssel zur Zukunft. Schon der Nachfolger Bodes für die documenta 5 war eine riesige Überraschung: Wer ist jetzt dieser junge bärtige Schweizer? Wie heißt der, Szeemann?

Seitdem hatten internationale Großausstellungen, grob gesprochen, linke Kuratoren. Sie mussten die neuen Diskurse begriffen haben, um reüssieren zu können. Sie mussten in der Lage sein, "das Museum" in Frage zu stellen: Performance statt Objekt; Land-art statt Skulptur-vor-dem Haus; plakative statt feiner Malerei; Anleitung zur Kunst als Kunst.

Dabei waren es immer zweierlei Tendenzen zu meistern, nämlich die Entfesselung oder die Drosselung. Entweder wurde das Kunstwerk polymorph, anarchisch, maschinenhaft, kollektiv. Oder es wurde wortlastig, bildlos, eifernd und selbstbezogen. Es gab auch Hybride.

Dies alles hat große Beunruhigung ausgelöst: Wie konnte es sein, fragten die Kritiker, dass beide recht haben sollen, die Bildbeschwörer und die Bilderstürmer? Das Publikum war da anders gestimmt. Je weiter die Pole gesteckt, desto größer der Raum der Wahrnehmung. So sind immer mehr Leute gekommen, Establishment und Opposition zugleich. Sammler und Habenichtse. Fetischisten und Grübler.


Niemals haben sich Kuratoren ganz auf die Seite der Versagung, der Negation schlagen können. Erst Catherine David hat in Kassel 1997 mit Bestrafung gedroht: Bildgelüste? Rübe ab! Die Angst vor einer "Abrechnung" ging soweit, dass man glaubte, David wolle mit ihrer documenta X die Veranstaltung historisch unmöglich machen. Auch Okwui Enwezor saß 2002 als Kontrollfreak im Leuchtturm; die Kasseler Publikumsführungen waren salonmarxistische Infiltration. Die bittere Ahnung, dass die Kuratoren dem Publikum ihre eigenen Ausstellungen nicht gönnen, dass wir gegängelt werden sollen, belehrt, ja vielleicht bekehrt, ergreift inzwischen jeden Besucher der Documenta.

Noch nie aber hat es das gegeben: eine Documenta in einer Atmosphäre zwischen Gleichgültigkeit und Bedrückung. Ärgstes Zeichen der XII: Das obere Stockwerk des Fridericianums ist nicht im Rundgang zu begehen, weil sich im linken Flügel das Büro der Veranstalter eingenistet hat. Abgeschlossen. Einbahnstraße! Der beste Platz im besten Haus blockiert.

Ein würdiger Kurator ist der, den man während der Begehung der Ausstellung vergisst. Ein würdiger Kurator war Manfred Schneckenburger, der die Documenta zweimal ausgerichtet hat, 1977 und 1987. Kaum jemand erinnert sich überhaupt seines Namens. Ihm verdanken wir zwei exzeptionelle Stadtkunstfeste, die er übrigens nicht allein konzipiert hat, sondern mit einem ganzen Stab angesehener Berater, und es waren nicht seine Ehefrauen. Die Kasseler Ausstellungen unter Schneckenburger waren widersprüchlich, reich, offen und keineswegs "marktfern". Die Kritik war nicht immer froh drum, aber der Funke von der Kunst zum Publikum ist übergesprungen. Sie hat sich in unser Gedächtnis eingegraben: der "Erdkilometer" 1977 oder der vom Publikum so getaufte "Kettenreaktionsfilm" 1987. Ob Documenta oder nicht, es machte einen Unterschied, für alle. Alle, die nach Schneckenburger kamen, haben von seiner Inszenierungspraxis profitiert: Hoet, David, Enwezor.

Ganz unkomisch ist es ja nicht, dass maoistisch indoktrinierte Künstler wie Immendorff den Sturz des Documenta-Imperators Bode einst herbeigeführt hatten. Damals war linksradikal zu sein ein Stachel, um die Institutionen in Aufruhr zu versetzen. Längst ist es andersherum, die jungen Leute kommen recht unbefangen an die Akademien und verlassen sie indoktriniert; jede(r) Zweite segelt unter dem Fähnchen der Globalisierungskritik. Der letzte Schrei am Kunstmarkt ist "Marktferne".

Entscheidend für die emotionale Entfaltung einer Kunstschau ist die Auswahl der Künstler - nicht das Prinzip, nach dem sie ausgewählt werden. Das lässt sich von Münster lernen. Eine Stadt, die einen Bürgerpark in eine Großbaustelle verwandelt, damit der Entwurf der Künstlerin, eine Baustelle zu simulieren, Wirklichkeit wird: Diese Stadt hat ihre Kunst verdient. Das Publikum staunt, zaudert, berät sich, studiert Karten und begreift: Es ist mehr da, als es fassen kann. Und so muss es sein. Wen interessiert es am Ende, ob der Kurator ein König ist oder dessen Narr. Das Kunstfest hat stattgefunden, Brot für die Künstler, für das Publikum Spiele.

Eine Ausstellung muss glänzen. Sie soll das Unvereinbare vergleichen. Sie darf nicht am Hungertuch des Selbstzweifels nagen. Ihr Risiko sollte größer sein als ihre potentielle Einsicht. Sie braucht Künstlerinnen und Künstler, die stark genug sind, sich mit den Kuratoren anzulegen. Die Kunst ist, die Kunst zu feiern. Lernen kann man das nicht.



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Dokument erstellt am 19.09.2007 um 17:12:02 Uhr
Letzte Änderung am 19.09.2007 um 17:18:59 Uhr
Erscheinungsdatum 20.09.2007