Salzburger Nachrichten am 31. August 2005 - Bereich: kultur
Die Kunst des Spagats

Die 62. Filmfestspiele von Venedig werden am heutigen Mittwoch eröffnet. Das europäische Kino und Hollywood sind heuer besonders stark vertreten.

MATTHIAS GREULINGVENEDIG (SN). Die Weltpolitik macht auch vor einem Filmfestival nicht Halt. Wenige Tage vor Beginn der Filmfestspiele am Lido di Venezia hat das verantwortliche Pressebüro ein Bulletin an alle teilnehmenden Journalisten gesandt, in dem für dieses Jahr besonders strenge Sicherheitsmaßnahmen angekündigt wurden. Italien als potenzielles Ziel terroristischer Aggression und die noch nicht lange zurückliegenden Anschläge in London lassen die Behörden zu drastischen Mitteln greifen: Großräumige Verkehrssperren, Durchsuchung des Handgepäcks und Leibesvisitationen könnten bei der diesjährigen - auch von vielen US-Stars besuchten - "Mostra del Cinema" die Regel sein - zum ersten Mal in ihrer Geschichte.

Fernab dieser Terrorängste gestaltete Marco Müller, seit dem Vorjahr künstlerischer Leiter der ältesten Filmfestspiele der Welt, ein beeindruckendes Programm, das in Sachen Prestige und künstlerischer Ausgestaltung mit dem großen Konkurrenten in Cannes allemal mithalten kann.

Zwar programmiert man am Lido immer wieder einige (meist schwache) italienische Produktionen in den Wettbewerb um den Goldenen Löwen - heuer sind es drei Filme, darunter die neue Arbeit von Pupi Avati. Dennoch legte sich Müller ins Zeug, um einige prominent besetzte internationale Filme zeigen zu können: Neben Abel Ferraras "Mary" mit Juliette Binoche, Terry Gilliams zweifelhafter Märchenfabel "The Brothers Grimm" mit Heath Ledger und Matt Damon, George Clooneys zweiter Regiearbeit "Good Night, and Good Luck" oder Ang Lees beeindruckendem Homosexuellendrama "Brokeback Mountain" mit Heath Ledger dominieren den offiziellen Wettbewerb vor allem Produktionen aus Europa. Isabelle Huppert könnte in Patrice Chéreaus "Gabrielle" glänzen, während Laurent Cantets "Vers le sud", Krzysztof Zanussis "Persona non grata", Fernando Meirelles' "The Constant Gardener" oder Philippe Garrels "Les amants régulieres" die größten europäischen Filmtalente an den Lido bringen sollen. Darunter finden sich auch Namen wie Charlotte Rampling, Ralph Fiennes oder Kate Winslet.

Kirsten Dunst, Orlando Bloom, Russell Crowe, Renée Zellweger oder Mark Wahlberg werden die Festspiele nutzen, um ihre neuen Filme außer Konkurrenz vorzustellen - damit sollen die Produktionen für ihren Herbst-Kinostart in Europa eine optimale Marketing-Platzierung erhalten. Bei knapp 4000 anwesenden Journalisten läuft die Publicity für die US-Studios gleichsam ganz von allein.

Ein Festival lebt eben von den Stars, auch, wenn die wirklichen Entdeckungen meist abseits des Mainstream gemacht werden. Ein Gemeinschaftsprojekt mit karitativen Zügen dürfte die Kurzfilmsammlung "All the Invisible Children" sein, die von Regisseuren wie Spike Lee, Emir Kusturica, Ridley Scott oder John Woo realisiert wurde. Matthew Barneys "Drawing Restraint 9" mit der Sängerin Björk, Werner Herzogs "The Wild Blue Yonder" oder Isabel Coixets "La vida secreta de las palabras" gehören zu den experimentelleren Beiträgen.Premiere für Michael Glawogger in Nebenreihe Aus Österreich kommt heuer Michael Glawoggers "Workingman's Death", eine Dokumentation, die in der Reihe "Horizons" Premiere haben wird. Glawogger schildert darin in beeindruckender, bildgewaltiger Weise den Niedergang der Arbeiterklasse - mit Beispielen von der Ukraine bis nach China.

Programmatisch hat Festivalchef Marco Müller, der früher das Locarno-Festival geleitet hat, den gefährlichen Spagat zwischen hoher Kunst und anspruchsvollem Kommerz versucht. Damit hat er eine Taktik übernommen, die bereits in Cannes erfolgreich funktioniert.

Bis 10. September wird sich zeigen, ob Müllers Ansprüche auch bei den Besuchern den nötigen Anklang finden.