Taubenplage und Tintoretto
Biennale. Auf der Suche nach Erleuchtungen: Die Schau „ILLUMInations“ von Bice Curiger.
MARTIN BEHR VENEDIG (SN). Überall Tauben. Auf dem Markusplatz, bei der Rialto und auch auf dem Gelände der Kunstbiennale haben sich graue Vögel eingenistet. Auf der Fassade des Palazzo delle Esposizioni im Giardini-Gelände etwa – drinnen lugen sie von erhöhter Position auf das sich emsig tummelnde Kunstvolk herab. Mit zu Boden fallenden Exkrementen ist nicht zu rechnen. Denn der italienische Künstler Maurizio Cattelan hat wieder einmal ausgestopfte Tauben, diesmal sind es mehr als 200, in einen Kunsttempel eingeschleust.Ein Meister des Lichts Die Taubenplage ist bloß dort eingedämmt, wo Biennale-Chefin Bice Curiger drei Werke von Altmeister Jacopo Robusti (Tintoretto) platziert hat. Tintoretto auf der zeitgenössischen Weltkunstschau? Für Bice Curiger, die für die Hauptausstellung „ILLIMInazioni – ILLUMInations“ verantwortlich zeichnet, ist das kein Widerspruch. „Er ist ein Meister des Lichts, seine Kunst ist in vielen Aspekten unorthodox und experimentell“, sagt die Schweizer Kuratorin, die mit ihrer Werkschau, die Arbeiten von 83 Kunstschaffenden, darunter 32 Frauen, vereint, Erleuchtung und Erhellung im Kunstvolk anstrebt. Etwa in Fragen der subjektiven wie kollektiven Identität, der Rolle des Künstlerseins, der Notwendigkeit von Grenzen.
Curiger stellt zur Diskussion, ob das Betriebssystem Kunst als Nation zu verstehen sei. Falls ja: „Wie sieht eine Verfassung aus?“ Spannende Denkanstöße aus dem Mund der 62-jährigen Kuratorin, die in ihrer Künstlerliste nicht nur auf bewährte, abgesicherte und wohlbekannte Namen setzt.
Identitätssuche, formal neu umgesetzt, betreibt die Amerikanerin Cindy Sherman im Palazzo delle Esposizioni. Ihre famosen färbigen Selbstbildnisse vor schwarz-weißer Naturkulisse sind wie Tapeten direkt an die Wand appliziert. Stichwort Tapeten: Die Polin Monika Sosnowska hat einen der vier von Curiger in Auftrag gegebenen Para-Pavillons gestaltet, eigenständige Raumhüllen für Kunstwerke, im konkreten Fall rahmt flirrende Ornamentik die prägnanten Fotos von David Goldblatt. Mit seinen von der Welt der Comics beeinflussten, gesellschaftskritischen Gemälden setzt der amerikanische Künstler Llyn Foulkes Akzente, der im Vorjahr verstorbene Deutsche Sigmar Polke attestierte ihn unter anderem mit der Arbeit „Polizeischwein“: Anarchistischer Humor wirft Licht auf den Umgang mit staatlichen Autoritäten.
Mit großformatigen Arbeiten, die an aufgeblasene Rorschachtests erinnern, thematisiert Christopher Wool unter anderem die hehren Authentizitätsansprüche an Kunst. Eine faszinierende Entdeckung: Die extrem subjektiven grafischen Wunderwerke der Polin Jeanne Natalie Wintsch (1871–1944), einer psychiatrischen Patientin und „Outsider Art“-Vertreterin. Von den Szenestars Pipilotti Rist sowie Peter Fischli und David Weiss hat man indes schon faszinierendere Arbeiten gesehen.
Szenenwechsel zu den Erleuchtungen im Arsenale-Gelände. Den Auftakt macht eine Behausung, der Chinese Song Dong agiert ähnlich wie die Österreicher Erwin Wurm und Franz West, transferiert sein Elternhaus aus Peking in die Lagunenstadt und konfrontiert das Kunstpublikum mit „sprechender Architektur“: Private Historie wird öffentlich.Brennender Künstlerfreund Fast schon anbiedernd, wenn das Ausstellungsmotto „ILLUMInations“ heißt, erscheinen die spektakulären Wachsarbeiten des Schweizers Urs Fischer. Seine riesigen „Kerzen“-Skulpturen zeigen einen brennenden Bürostuhl, eine Giovanni-Bologna-Replik und Fischers Künstlerfreund Rudolf Stingel (mit brennendem Docht in Großhirnnähe). Im Arsenale häufen sich die Lichtspiele, mal sind sie eindeutig (Martin Creed), dann wieder unaufdringlich (Anette Kelm). Für Augensensationen im großen Stil steht einmal mehr der Amerikaner James Turrell.
Aus der Fülle an gezeigten Positionen ragen etwa die Loch-Ness-Recherchen des Iren Gerard Byrne, die 24-Stunden-Filmcollage „The Clock“ des Amerikaners Christian Marclay oder die auf Tintoretto aufbauende Installation der italienischen Künstlerin Monica Bonvicini. Fazit: Curigers Parcours ist konzentriert, klug, nur selten beliebig.