Wien - Leo liegt also. Liegt mitten im Wald am Rücken und rührt sich nicht. Leo trägt Jeans, T-Shirt, Sportschuhe und Schirmmütze. Der Wald ist hell, eher Laub- denn Nadelwald. Zarte Stämme säumen einen Fluss im Hintergrund. Birken vielleicht. Ist Leo müde? Oder ist Leo tot? Entspannt der sich, oder zersetzt er sich schon?
Schwer zu sagen aus der Distanz. In jedem Fall ist Leo kein schöner Anblick. Die Gefahr, von sinnlichen Begierden überwältigt zu werden, wenn man Leo so liegen sieht, besteht jedenfalls nicht. Bleiben bloß andere heftige Emotionen, die der Daliegende auslösen könnte. Die wären aber auch ganz schlecht, den (ästhetischen) Fall zu lösen.
Bleibt nur: Distanz! Überblick bewahren! Ratio einschalten! Moral, Politik, Religion - einfach alles ausblenden. Zunächst will Leo einer eingehenden Betrachtung unterzogen werden. Wer ist der, was macht der, was will der hier?
Der Jüngste ist Leo nicht mehr. T-Shirts werden nur bis herauf zu einer bestimmten Generation in die Hosen gestopft und mit breiten brachialschnalligen Gürteln verzurrt. Außerdem neigt der jüngere Mensch eher dazu, den Schirm seiner Mütze irgendwohin sonst abstehen zu lassen, nur nicht streng der Nase nach. Außerdem hat Leo ein Doppelkinn.
Und Leo ist bleich. Ein müder Holzfäller ist der jedenfalls nicht, für einen Wanderer ist er zu unkariert, und waidmännisch sieht der sowieso nicht aus. Kurz: Leo passt nicht in diesen Wald. Leo passt in überhaupt keinen Wald. Leo ist ein Fremdkörper. Leo muss tot sein. So einer entspannt sich nicht hier und so. Wo dann könnte so einer hingehören? So bleich, so schwammig, so wenig Mitleid erregend.
Mein Gott, womöglich ist Leo ein Mullet, die Zukunft Amerikas, Kategorie unterdrückter Redneck, sicher ist der teilgebleicht unter der Schirmkappe und trifft sich mit anderen Prolls zum Mullet-'n'-Guns-Klubabend zwecks hopfenverstärkter Besprechung des sonntäglichen Combat-Schießens. Der hört Mötley Crüe und kennt Pam Anderson aus der Jury vom Wet-T-Shirt-Contest im Rahmenprogramm des letzten Kid-Rock-Konzerts. Oder besser hörte und kannte.
Irgendwie ist aus dem letzten kumpelhaften Combat-Schießen Ernst geworden. Irgendwer muss die Farbpatronen gegen Dumdumgeschoße ausgetauscht haben. Andererseits weist Leo keine sichtbaren Verletzungen auf, nichts befleckt sein weißes T-Shirt. Herzinfarkt? Einfach stocksteif rücklings umgefallen und aus? Oder ist das doch blutiges Hirn, das da in feinen Rinnsalen zart durchs frische Moos leuchtet?
Jedenfalls ist unweit ein weißer Volvo-Combi unter Laub getarnt. Und mittlerweile durchsuchen Investigators den Tatort. Aber das ist eine andere Ebene im Live-Acting-Role-Play, in dem Leo diesmal Pech hatte. In Wirklichkeit sitzt der Mann hinter dem toten Leo nächtelang zu Hause und genießt die Möglichkeit, via Internetz mit seinesgleichen in der ganzen Welt Kontakt aufnehmen zu können.
Der echte Leo ist nicht tot. Der ist bloß sauer, dass irgendein dahergelaufener User aus Australien seinen Joystick schneller gezogen hat, was für ihn jetzt "game over" heißt.
Und der Alois Mosbacher hat uns allen gezeigt, wo ein echter Plein-Air-Maler
heutzutage seine Staffelei aufstellt. Nahe liegend, dass er den Hauptraum der
Wiener Secession als Oberfläche begreift, um in tiefere Ebenen vorzudringen -
auf verschlungenen Pfaden, quer über Lichtungen, vorwärts in dunkle, enge
Gassen. Out There heißt sein Spiel, sich dem Virtuellen konventionell zu
nähern. Sein Mont-Saint-Victoire, sein Heuhaufen heißt Leo. Und aus Leo lassen
sich offensichtlich tolle Bilder machen.
(DER STANDARD, Printausgabe,
6.5.2004)