"Balkania" heißt die Schau, "Balkan als Metapher zwischen
Globalisierung und Fragmentierung" das dazugehörige Buch. Nie
umfangreicher, methodisch findiger wurde Europas belasteter und
belastender Subkontinent in einem heimischen Kunstinstitut mit dem
Anspruch von Aktualität, von Gleichzeitigkeit vorgeführt. 60 Künstler
haben (sich) eigens für das Schaufenster Graz produziert, auch solche aus
Griechenland und der Türkei.
Den Kuratoren - Roger Conover, Eda Cufer, Peter Weibel -
gelang die Inszenierung einer lebendigen, bedrückenden, verwirrenden Fülle
voll heißem Atem, der sich kaum in die Packformen klassischer Sammlerkunst
zwängen ließ - und darum auch nicht zur Nachhol-Anthologie des westlichen
Kunsthandels geriet, welcher den Osten und Südosten als tumbe Hinterwelt
seines Weltkunstbetriebs verachtet hat und seine Scouts erst zum Einkaufen
aussandte, als dort Wendekraft und Wendeschmerz sich schon verflüchtigten.
Im "User's Manual" (nur englisch) zur Ausstellung, einem
reich bebilderten Taschenbuch, sind die Gäste nach Alphabet mit ihren
Biographien aufgelistet: von der in Amsterdam lebenden Belgrader
Körperaktionistin Marina Abramovic bis zu Dejan Vekic aus Sarajewo, der
als Photograph Kriegsverbrechen dokumentierte und nach Graz ein Video
("KaoSarajevo") schickte mit der Musik aus "Batman Returns". "Balkan
Heterotopia" nennt der Türke Hüseyin Alptekin in Anlehnung an Foucault ein
Arrangement von Fundstücken wie von einemFlohmarkt. Die Kurdin Halil
Altindere läßt den Clash der Zivilitationen ins Auge springen mit einem
Photo, auf dem eine orientalische Türkin Marilyn Monroe als Pop-Art-Ikone
studiert.
Das Projekt "Tinseltow" (tin = Zinn, tinsel
= Flitter) vereint eine Gruppe von Rumänen, zum Teil Roma. Sie führen eine
im Osten (auch in der Ukraine) verbreitete Galanterie-Spengler-Kunst fort:
Phantastischer Turmhelme und Wetterfahnen aus Zinnblech. Die Hauptnamen:
Mariana Celac, Iosif Király, Marius Marcu. Ihre SalonBlechplastiken
könnten unverwechselbare Pflichtstücke in den Museen zeitgenössischer
Kunst werden wie die Stahlskulpturen Donald Judds - bloß komischer.
Vlasta Delimar ist eine der radikalsten Feminstinnen
Osteuropas - sie kam mit großformatigen Photos von einem Ritt nackt auf
einem Pferd ("Lady Godiva"). Braco Dimitrijevics "Citizens of Sarajevo"
(1992) - Porträtphotos europäischer Kulturheroen an der Wand, dazwischen
blutrot gefärbte Äxte eingeschlagen - sind eine Leihgabe des Wiener
Bundesmuseums für moderne Kunst.
Goran Dordevic begann um 1980 Meisterwerke der Moderne
mit dem Zeichenstift zu reproduzieren - ein Verzweiflungsgestus gegen die
Isolation in Jugoslawien, in der er sich darum als Second-Hand-Art-Dealer
empfand. Simpler dagegen die Auflehnungen gegen den Kampf sozialistischer
Regime gegen die Pornographie: Da sind in vielen Ländern Ventile
aufgegangen, aus denen das Immergleiche tröpfelt.
"Irwin", die Bildkunstsektion der seit den frühen
achtziger Jahren aktive Gruppe "Neue Slowenische Kunst" (NKS), führt in
ihrer Installation "Retroavantgarde" mit Kreuz- und Querverweisen in die
gesamte Moderne zugleich Anspruch und Verzicht auf eine dauergültige
Position vor. NKS und Irwin haben den engsten Kontakt mit Graz gehalten.
Auch der unterm Pseudonym "Mangelos" bekannte Dimitrije Basicevic (1921
bis 1987) arbeitete als Konzept- und Medienkünstler auf der
rückwärtsgewandten Linie der Avantgarde.
Aus Albanien kamen ironische Echos auf den
Enver-Hodscha-Kult (von Bashkim Shehu), aus Rumänien höhnische Antworten
auf Ceausescu (Ion Grigorescu). Mittendrin: Eine Retrospektive wie aus
einem Museum auf den amerikanischen Turbinen-, Motor- und Funkpionier
Nivola Tesla (1856 bis 1943) - der aus der Nähe von Zadar stammt, einst
Österreichisch-Dalmatien.
Das Grazer Beispiel kann Schule machen. Harald Szeemann
bereitet bereits eine Balkan-Schau für die Klosterneuburger Sammlung Essl
vor. Dank der schon in den siebziger Jahren begonnen
"Trigon"-Ausstellungen im Steirischen Herbst und Peter Weibels Kontakte zu
den rabiaten Szenen in den Balkan-Metropolen wird auch ein Stück eigener,
lokaler Geschichte vorgeführt - samt Erinnerungen an manche Hilfeleistung
für Verfolgte, Ausgegrenzte.
Zwei Etagen voll "Balkan" in der Neuen Galerie, einem
Barockpalais in der Grazer Sackgasse. Im Stiegenhaus verkauft Tome
Adzievski aus Mazedonien Acht-Unzen-Packungen HDR, das meint Humanitarian
Daily Ration ("Food gift from the People of the United States of
America"). Amerikas Notmenü-Packung aufreißen und mit dem Löffel essen:
Lentil Stew oder Beans and Rice with Tomato Sauce oder
Yellow Rice. Acht Unzen sind 227 Gramm.
Das zur Grazer Ausstellung gelieferte "Balkan as
Metaphor"-Buch verlegte - in seiner der Reihe Creative Europe
mitfinanziert vom Wiener Bundeskanzleramt - das Massachusetts Institute of
Technolgy. Einer der Herausgeber, Roger Conover lehrt am MIT, die anderen
sind Dusan I. Bjelic (Professor für Kriminologie in Southern Maine) und
Obrad Savic, Sozialphilosoph in Belgrad und heute Vorsitzender der
Bürgerrechtsbewegung Cercle de Belgrade.
Eine Balkan-Reise auf den Spuren Le Corbusiers (der
Schweizer Architekten durchstreifte in jungen Jahren Serbien, Kroatien,
Mazedonien, Nordgriechenland) veranlaßte Conover, den Bedeutungsmustern,
Mentalitäts-Schemata, schlichtweg Vorurteilen des Begriffs Balkan
nachzugehen. Balkanismus klingt nach Schlamperei und
Gewalttätigkeit, Orientalismus aber nach verlorenen Zaubern. Die
Aufsätze von dreizehn großteils vom Balkan stammenden amerikanischen
Wissenschaftlern machen dieses Buch zu einem Standardwerk (wenn darin auch
die US-Perspektive alle europäischen Urteile verdrängt).
Tomislav Z. Longinovic (Wisconsin) erklärt, was
Amerikaner schaudern macht vor dem fernen Balkan: etwa der "Dracula"-Roman
Bram Stokers (1897). Nicht nur US-Bürger hielten sich an trockenes Papier:
Zur eigenen Beschämung ist auch die meistgelesene Informations-Antiquität
deutscher Zunge ausgestellt: "In den Schluchten des Balkans" von Karl May.
Bis 1. Dezember Di. bis So, 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20
Uhr.
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Die Presse | Wien