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21.10.2002 - Ausstellung
Heißer Atem der Vielvölkerkunst: Balkan in Graz
Die Neue Galerie in Graz bietet eine ironisch-aggressive, bisweilen sich spaßhaft entladende Zusammenschau auf die Kunst-Opposition vor der Wende am Balkan sowie die neuen Wege danach. Zur Ausstellung erschien in den USA ein Lernbuch: "Balkan as Metaphor
VON HANS HAIDER


"Balkania" heißt die Schau, "Balkan als Metapher zwischen Globalisierung und Fragmentierung" das dazugehörige Buch. Nie umfangreicher, methodisch findiger wurde Europas belasteter und belastender Subkontinent in einem heimischen Kunstinstitut mit dem Anspruch von Aktualität, von Gleichzeitigkeit vorgeführt. 60 Künstler haben (sich) eigens für das Schaufenster Graz produziert, auch solche aus Griechenland und der Türkei.

Den Kuratoren - Roger Conover, Eda Cufer, Peter Weibel - gelang die Inszenierung einer lebendigen, bedrückenden, verwirrenden Fülle voll heißem Atem, der sich kaum in die Packformen klassischer Sammlerkunst zwängen ließ - und darum auch nicht zur Nachhol-Anthologie des westlichen Kunsthandels geriet, welcher den Osten und Südosten als tumbe Hinterwelt seines Weltkunstbetriebs verachtet hat und seine Scouts erst zum Einkaufen aussandte, als dort Wendekraft und Wendeschmerz sich schon verflüchtigten.

Im "User's Manual" (nur englisch) zur Ausstellung, einem reich bebilderten Taschenbuch, sind die Gäste nach Alphabet mit ihren Biographien aufgelistet: von der in Amsterdam lebenden Belgrader Körperaktionistin Marina Abramovic bis zu Dejan Vekic aus Sarajewo, der als Photograph Kriegsverbrechen dokumentierte und nach Graz ein Video ("KaoSarajevo") schickte mit der Musik aus "Batman Returns". "Balkan Heterotopia" nennt der Türke Hüseyin Alptekin in Anlehnung an Foucault ein Arrangement von Fundstücken wie von einemFlohmarkt. Die Kurdin Halil Altindere läßt den Clash der Zivilitationen ins Auge springen mit einem Photo, auf dem eine orientalische Türkin Marilyn Monroe als Pop-Art-Ikone studiert.

Das Projekt "Tinseltow" (tin = Zinn, tinsel = Flitter) vereint eine Gruppe von Rumänen, zum Teil Roma. Sie führen eine im Osten (auch in der Ukraine) verbreitete Galanterie-Spengler-Kunst fort: Phantastischer Turmhelme und Wetterfahnen aus Zinnblech. Die Hauptnamen: Mariana Celac, Iosif Király, Marius Marcu. Ihre SalonBlechplastiken könnten unverwechselbare Pflichtstücke in den Museen zeitgenössischer Kunst werden wie die Stahlskulpturen Donald Judds - bloß komischer.

Vlasta Delimar ist eine der radikalsten Feminstinnen Osteuropas - sie kam mit großformatigen Photos von einem Ritt nackt auf einem Pferd ("Lady Godiva"). Braco Dimitrijevics "Citizens of Sarajevo" (1992) - Porträtphotos europäischer Kulturheroen an der Wand, dazwischen blutrot gefärbte Äxte eingeschlagen - sind eine Leihgabe des Wiener Bundesmuseums für moderne Kunst.

Goran Dordevic begann um 1980 Meisterwerke der Moderne mit dem Zeichenstift zu reproduzieren - ein Verzweiflungsgestus gegen die Isolation in Jugoslawien, in der er sich darum als Second-Hand-Art-Dealer empfand. Simpler dagegen die Auflehnungen gegen den Kampf sozialistischer Regime gegen die Pornographie: Da sind in vielen Ländern Ventile aufgegangen, aus denen das Immergleiche tröpfelt.

"Irwin", die Bildkunstsektion der seit den frühen achtziger Jahren aktive Gruppe "Neue Slowenische Kunst" (NKS), führt in ihrer Installation "Retroavantgarde" mit Kreuz- und Querverweisen in die gesamte Moderne zugleich Anspruch und Verzicht auf eine dauergültige Position vor. NKS und Irwin haben den engsten Kontakt mit Graz gehalten. Auch der unterm Pseudonym "Mangelos" bekannte Dimitrije Basicevic (1921 bis 1987) arbeitete als Konzept- und Medienkünstler auf der rückwärtsgewandten Linie der Avantgarde.

Aus Albanien kamen ironische Echos auf den Enver-Hodscha-Kult (von Bashkim Shehu), aus Rumänien höhnische Antworten auf Ceausescu (Ion Grigorescu). Mittendrin: Eine Retrospektive wie aus einem Museum auf den amerikanischen Turbinen-, Motor- und Funkpionier Nivola Tesla (1856 bis 1943) - der aus der Nähe von Zadar stammt, einst Österreichisch-Dalmatien.

Das Grazer Beispiel kann Schule machen. Harald Szeemann bereitet bereits eine Balkan-Schau für die Klosterneuburger Sammlung Essl vor. Dank der schon in den siebziger Jahren begonnen "Trigon"-Ausstellungen im Steirischen Herbst und Peter Weibels Kontakte zu den rabiaten Szenen in den Balkan-Metropolen wird auch ein Stück eigener, lokaler Geschichte vorgeführt - samt Erinnerungen an manche Hilfeleistung für Verfolgte, Ausgegrenzte.

Zwei Etagen voll "Balkan" in der Neuen Galerie, einem Barockpalais in der Grazer Sackgasse. Im Stiegenhaus verkauft Tome Adzievski aus Mazedonien Acht-Unzen-Packungen HDR, das meint Humanitarian Daily Ration ("Food gift from the People of the United States of America"). Amerikas Notmenü-Packung aufreißen und mit dem Löffel essen: Lentil Stew oder Beans and Rice with Tomato Sauce oder Yellow Rice. Acht Unzen sind 227 Gramm.

Das zur Grazer Ausstellung gelieferte "Balkan as Metaphor"-Buch verlegte - in seiner der Reihe Creative Europe mitfinanziert vom Wiener Bundeskanzleramt - das Massachusetts Institute of Technolgy. Einer der Herausgeber, Roger Conover lehrt am MIT, die anderen sind Dusan I. Bjelic (Professor für Kriminologie in Southern Maine) und Obrad Savic, Sozialphilosoph in Belgrad und heute Vorsitzender der Bürgerrechtsbewegung Cercle de Belgrade.

Eine Balkan-Reise auf den Spuren Le Corbusiers (der Schweizer Architekten durchstreifte in jungen Jahren Serbien, Kroatien, Mazedonien, Nordgriechenland) veranlaßte Conover, den Bedeutungsmustern, Mentalitäts-Schemata, schlichtweg Vorurteilen des Begriffs Balkan nachzugehen. Balkanismus klingt nach Schlamperei und Gewalttätigkeit, Orientalismus aber nach verlorenen Zaubern. Die Aufsätze von dreizehn großteils vom Balkan stammenden amerikanischen Wissenschaftlern machen dieses Buch zu einem Standardwerk (wenn darin auch die US-Perspektive alle europäischen Urteile verdrängt).

Tomislav Z. Longinovic (Wisconsin) erklärt, was Amerikaner schaudern macht vor dem fernen Balkan: etwa der "Dracula"-Roman Bram Stokers (1897). Nicht nur US-Bürger hielten sich an trockenes Papier: Zur eigenen Beschämung ist auch die meistgelesene Informations-Antiquität deutscher Zunge ausgestellt: "In den Schluchten des Balkans" von Karl May.

Bis 1. Dezember Di. bis So, 10 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr.

http://www.neuegalerie.at/ 



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