Das Ars Electronica Festival will in der alten
Linzer Tabakfabrik die Welt retten und fordert zu "repair" auf
Die bunte Welt des Reparierens
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Klangwolke "Baby Jet": Ein Thriller in Echtzeit mit einem
Überschall-Magnetzug. Foto: Magdalena Lepka
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Von Julia Urbanek
![Aufzählung Aufzählung](00090533-Dateien/wzfeld.gif)
Ideensuche
auf 80.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche.
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Von selbstgebastelten Toastern und infizierten
Lampenschirmen.
Linz. Die schweren Schwingtüren lassen
sich kaum öffnen, die Lastenaufzüge sind gesperrt. In den Stiegenhäusern
ist von "Nutzlast" die Rede, die Anschlagbretter für betriebliche
Ankündigungen sind leer. Die alte Tabakfabrik ist dieser Tage aber
voller denn je zuvor. 1000 Menschen haben hier noch vor ein paar Jahren
Zigaretten produziert – jetzt sind es noch mehr Künstler und Arbeiter,
die in den langen Hallen ein Festival aus dem Boden stampften. Die
Bedingungen sind vielleicht nicht optimal, aber Platz ist genug.
Nachhaltigkeit als Geschäft
Ein Festival unter dem Motto "repair" muss außerdem bei sich selbst
anfangen – und schenkte dem Industriebau in einem aufwendigen
Recyclingprozess ein zweites Leben als Star der Ars Electronica. "Sind
wir noch zu retten" wird – in einer Zeit der globalen Krisen – gefragt.
Die Antworten zu finden, bedeutet für Besucher auch Beinarbeit: Auf
80.000 Quadratmetern findet das Festival statt, vom Keller bis zum
Dachboden, in sechsstöckigen Magazinen und hunderte Meter langen
Produktionshallen. Etwa sechs Stunden dauert eine komplette Besichtigung
– exklusive Entspannungsphasen am Fabriksgelände. Dieses ist für die
Festivalzeit bis 11. September wie ein Campus angelegt, mit Bierbänken
unter alten Bäumen, Essensstationen und Konzertbühne. Rundherum können
Elektro-Autos und E-Scooter getestet werden, große Firmen präsentieren
sich hier – Nachhaltigkeit ist schließlich auch ein Geschäft.
Idealistischer sind da schon die Ansätze des niederländischen
Kollektivs Platform 21. Sie haben sich dem Reparieren verschrieben und
das "Repair Manifesto" erstellt. "Reparieren ist Unabhängigkeit" heißt
es darin – "sei kein Sklave der Technologie, sei ihr Meister. Wenn etwas
kaputt ist, repariere es und verbessere es." Lotte Dekker kittet
zerbrochenes Porzellan mit der alten japanischen Technik Kintsugi, ihre
Arbeit hinterlässt goldene Narben auf dem Geschirr. "Durch das
Reparieren erhalten die Dinge einen neuen Wert", sagt sie. Diese Welt
des Reparierens ist spaßig und bunt: Jan Vormann füllt Risse in Mauern
mit Legosteinen, Heleen Klopper Löcher in alten Pullovern mit knalliger
Wolle.
Wie ernüchternd aber ein Weg in vorindustrielle Zeiten sein kann,
zeigt der Brite Thomas Thwaites mit seinem "Toaster Project", das im
Rahmen der "Cyber Arts"-Ausstellung zu sehen ist. Erstaunt über den
niedrigen Preis von drei Pfund für einen Toaster machte er sich daran,
selbst einen zu basteln. "In einer Zeit, in der der Nutzen der Industrie
in einem nicht mehr länger trivialen Verhältnis zu den
Umweltauswirkungen steht, scheinen Wegwerf-Toaster unvernünftig", sagt
Thwaites. Sein Toaster-Eigenbau, den Thwaites aus Rohmaterialien zuhause
zusammenbaute, ähnelt nur entfernt seinen Vorbildern, funktionierte
"für glorreiche fünf Sekunden" – kostete Thwaites allerdings 1500 Euro
und neun Monate Arbeitszeit.
Schreibende Augen
Auf zwei Stockwerken werden die Teilnehmer und Gewinner der Prix Ars
Electronica gezeigt – etwa Jonathan Schipper mit seinem "Measuring
Angst", das eine leere Bierflasche in Zeitlupe zerbrechen lässt,
Rückspuleffekt inklusive. Oder "The Eye Writer" einer
britisch-amerikanischen Gruppe, die für einen vollständig gelähmten
Graffiti-Künstler eine Tracking-Brille entwickelten, die diesem
ermöglicht, mit der Bewegung seiner Augen zu schreiben und zu zeichnen.
Der australische Künstler Stelarc, Preisträger einer Goldenen Nica,
transplantierte sich ein Ohr an seinen Unterarm, sprechendes
Porzellangeschirr erzählt von Essgewohnheiten in anderen Kulturen, der
Niederländer Daan Van den Berg "infiziert" Ikea-Lampen mit dem
Elephantasiasis-Virus und erzeugt wilde Wucherungen.
Hula-tanzender Asimo
Nüchterner und dokumentarischer geht der diesjährige "featured
artist" Richard Kriesche an die Frage "Sind wir noch zu retten". In
einer der wenigen Außenstellen des Festivals, in den Stahlwelten der
Voest alpine, zeigt er den Abschluss einer Trilogie. Nach "ästhetik des
kapitels" und "capital&code" zeigt er mit "blood&tears" sein
Modell von der Welt: Eine Software zeigt tagesaktuell, wie oft Begriffe
wie "Klimawandel", "Menschenrechte" oder "Kapital" im Internet
vorkommen. Als riesige rote Charts werden die Ergebnisse auf die Wand
zwischen Stahlgerüste projiziert.
Auch das Ars Electronica Center ist in diesem Jahr bloß eine
Außenstelle – wer sich von der Tabakfabrik hierher verirrt, tut dies
meist wegen Asimo. Der 130 Zentimeter große humanoide Roboter zeigt
mehrmals täglich in einer Show seine Fähigkeiten – er kann gehen, laufen
und beeindruckend Hula tanzen. Damit rettet man möglicherweise (noch)
nicht die Welt – vielleicht aber mit dem Magnetzug "Baby Jet", der im
Vakuumtunnel mit Überschallgeschwindigkeit fährt und so Flugzeuge
ersetzen könnte. Um ihn rankt sich die diesjährige visualisierte
Klangwolke, die am Samstag in der Abenddämmerung im Donaupark
stattfindet.
Ars Electronica Festival "repair. sind wir noch zu retten",
Tabakfabrik Linz, bis 11. September (http://www.aec.at). Klangwolken im
Donaupark: Visualisierte Klangwolke "Baby Jet" (4. September, 19.45
Uhr); Kinderklangwolke (11. September, 17 Uhr); Klassische Klangwolke
mit Bruckners Siebte Symphonie (12. September, 20 Uhr).
Printausgabe vom Samstag, 04.
September 2010
Online seit: Freitag, 03. September 2010 17:17:00
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