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Kunstberichte
Das Ars Electronica Festival will in der alten Linzer Tabakfabrik die Welt retten und fordert zu "repair" auf

Die bunte Welt des Reparierens

Klangwolke "Baby Jet": Ein Thriller in Echtzeit mit einem
 Überschall-Magnetzug. Foto: Magdalena Lepka

Klangwolke "Baby Jet": Ein Thriller in Echtzeit mit einem Überschall-Magnetzug. Foto: Magdalena Lepka

Von Julia Urbanek

Aufzählung Ideensuche auf 80.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche.
Aufzählung Von selbstgebastelten Toastern und infizierten Lampenschirmen.

Linz. Die schweren Schwingtüren lassen sich kaum öffnen, die Lastenaufzüge sind gesperrt. In den Stiegenhäusern ist von "Nutzlast" die Rede, die Anschlagbretter für betriebliche Ankündigungen sind leer. Die alte Tabakfabrik ist dieser Tage aber voller denn je zuvor. 1000 Menschen haben hier noch vor ein paar Jahren Zigaretten produziert – jetzt sind es noch mehr Künstler und Arbeiter, die in den langen Hallen ein Festival aus dem Boden stampften. Die Bedingungen sind vielleicht nicht optimal, aber Platz ist genug.

Nachhaltigkeit als Geschäft

Ein Festival unter dem Motto "repair" muss außerdem bei sich selbst anfangen – und schenkte dem Industriebau in einem aufwendigen Recyclingprozess ein zweites Leben als Star der Ars Electronica. "Sind wir noch zu retten" wird – in einer Zeit der globalen Krisen – gefragt. Die Antworten zu finden, bedeutet für Besucher auch Beinarbeit: Auf 80.000 Quadratmetern findet das Festival statt, vom Keller bis zum Dachboden, in sechsstöckigen Magazinen und hunderte Meter langen Produktionshallen. Etwa sechs Stunden dauert eine komplette Besichtigung – exklusive Entspannungsphasen am Fabriksgelände. Dieses ist für die Festivalzeit bis 11. September wie ein Campus angelegt, mit Bierbänken unter alten Bäumen, Essensstationen und Konzertbühne. Rundherum können Elektro-Autos und E-Scooter getestet werden, große Firmen präsentieren sich hier – Nachhaltigkeit ist schließlich auch ein Geschäft.

Idealistischer sind da schon die Ansätze des niederländischen Kollektivs Platform 21. Sie haben sich dem Reparieren verschrieben und das "Repair Manifesto" erstellt. "Reparieren ist Unabhängigkeit" heißt es darin – "sei kein Sklave der Technologie, sei ihr Meister. Wenn etwas kaputt ist, repariere es und verbessere es." Lotte Dekker kittet zerbrochenes Porzellan mit der alten japanischen Technik Kintsugi, ihre Arbeit hinterlässt goldene Narben auf dem Geschirr. "Durch das Reparieren erhalten die Dinge einen neuen Wert", sagt sie. Diese Welt des Reparierens ist spaßig und bunt: Jan Vormann füllt Risse in Mauern mit Legosteinen, Heleen Klopper Löcher in alten Pullovern mit knalliger Wolle.

Wie ernüchternd aber ein Weg in vorindustrielle Zeiten sein kann, zeigt der Brite Thomas Thwaites mit seinem "Toaster Project", das im Rahmen der "Cyber Arts"-Ausstellung zu sehen ist. Erstaunt über den niedrigen Preis von drei Pfund für einen Toaster machte er sich daran, selbst einen zu basteln. "In einer Zeit, in der der Nutzen der Industrie in einem nicht mehr länger trivialen Verhältnis zu den Umweltauswirkungen steht, scheinen Wegwerf-Toaster unvernünftig", sagt Thwaites. Sein Toaster-Eigenbau, den Thwaites aus Rohmaterialien zuhause zusammenbaute, ähnelt nur entfernt seinen Vorbildern, funktionierte "für glorreiche fünf Sekunden" – kostete Thwaites allerdings 1500 Euro und neun Monate Arbeitszeit.

Schreibende Augen

Auf zwei Stockwerken werden die Teilnehmer und Gewinner der Prix Ars Electronica gezeigt – etwa Jonathan Schipper mit seinem "Measuring Angst", das eine leere Bierflasche in Zeitlupe zerbrechen lässt, Rückspuleffekt inklusive. Oder "The Eye Writer" einer britisch-amerikanischen Gruppe, die für einen vollständig gelähmten Graffiti-Künstler eine Tracking-Brille entwickelten, die diesem ermöglicht, mit der Bewegung seiner Augen zu schreiben und zu zeichnen. Der australische Künstler Stelarc, Preisträger einer Goldenen Nica, transplantierte sich ein Ohr an seinen Unterarm, sprechendes Porzellangeschirr erzählt von Essgewohnheiten in anderen Kulturen, der Niederländer Daan Van den Berg "infiziert" Ikea-Lampen mit dem Elephantasiasis-Virus und erzeugt wilde Wucherungen.

Hula-tanzender Asimo

Nüchterner und dokumentarischer geht der diesjährige "featured artist" Richard Kriesche an die Frage "Sind wir noch zu retten". In einer der wenigen Außenstellen des Festivals, in den Stahlwelten der Voest alpine, zeigt er den Abschluss einer Trilogie. Nach "ästhetik des kapitels" und "capital&code" zeigt er mit "blood&tears" sein Modell von der Welt: Eine Software zeigt tagesaktuell, wie oft Begriffe wie "Klimawandel", "Menschenrechte" oder "Kapital" im Internet vorkommen. Als riesige rote Charts werden die Ergebnisse auf die Wand zwischen Stahlgerüste projiziert.

Auch das Ars Electronica Center ist in diesem Jahr bloß eine Außenstelle – wer sich von der Tabakfabrik hierher verirrt, tut dies meist wegen Asimo. Der 130 Zentimeter große humanoide Roboter zeigt mehrmals täglich in einer Show seine Fähigkeiten – er kann gehen, laufen und beeindruckend Hula tanzen. Damit rettet man möglicherweise (noch) nicht die Welt – vielleicht aber mit dem Magnetzug "Baby Jet", der im Vakuumtunnel mit Überschallgeschwindigkeit fährt und so Flugzeuge ersetzen könnte. Um ihn rankt sich die diesjährige visualisierte Klangwolke, die am Samstag in der Abenddämmerung im Donaupark stattfindet.

Ars Electronica Festival "repair. sind wir noch zu retten", Tabakfabrik Linz, bis 11. September (http://www.aec.at). Klangwolken im Donaupark: Visualisierte Klangwolke "Baby Jet" (4. September, 19.45 Uhr); Kinderklangwolke (11. September, 17 Uhr); Klassische Klangwolke mit Bruckners Siebte Symphonie (12. September, 20 Uhr).



Printausgabe vom Samstag, 04. September 2010
Online seit: Freitag, 03. September 2010 17:17:00

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