Salzburger Nachrichten am 07. Dezember 2002 - Bereich: wochenende
Speckbrett und Fabeltier

Auf Spurensuche im steirischslowenischen Grenzraum: kurz vor ihrem Tod hat die Fotokünstlerin Inge Morath ihre alte Heimat besucht. Erste Ergebnisse präsentiert "Grenz.Räume - Last Journey", ein "Bilder-Lese-Buch".

MARTIN BEHR

Ein Licht-Trapez schneidet sich in das Waggon-Dunkel. Die Blickrichtung Inge Moraths führt von innen nach außen, durch die geöffnete Zug-Türe auf den Schaffner, der mit seiner erhobenen Hand dem Lokführer das Signal zur Abfahrt gibt. Die Botschaft des Fotos? Auf zur Entdeckungsreise in die alte Heimat: für das von der Journalistin und Filmemacherin Regina Strassegger betreute Projekt "Grenz.Räume" hat die in Graz geborene Fotografin Inge Morath im Vorjahr drei Mal den steirischslowenischen Grenzraum, das Land ihrer Vorfahren, bereist. Das Ergebnis dieser fotografischen Spurensuche liegt nun in Buchform (Prestel-Verlag) vor, eine Film-Dokumentation wird folgen. Der plötzliche Tod Moraths im Jänner dieses Jahres hat dem Projekt einen Zusatz-Titel verliehen: "Last Journey".

"Eine heimliche Sehnsucht von mir"

Land an der Grenze. Hier Steiermark, da Slowenien. Dazwischen: die EU-Außengrenze. Zwei Länder, getrennt durch einen Fluß, durch Weinreben, durch ein Asphaltband, das sich durch die Landschaft schlängelt, dann wieder durch einen grobmaschigen Drahtzaun, der eher Symbol als Barriere darstellt. Barrieren existieren eher in den Köpfen der Menschen.

"Dieser Landstrich an der Grenze ist eine heimliche Sehnsucht von mir. Wenn mich jemand fragt ,Wo bist du her, wo fühlst du dich eigentlich zu Hause?', dann ist das - abgesehen von dort, wo ich jetzt in Amerika schon so lange wohne - hier in den Weingärten, dem Paradies meiner Kindheit. Aber auch die Gegend über der Grenze, von der mir meine Mutter, die Titti, so viel erzählt hat, die gehört dazu. Seltsam, dass ich das jetzt alles wieder entdecke", schreibt Inge Morath im Buch.

Inge Morath, die Kindheitsarchä-ologin. Mit der Kamera um ihren Hals fuhr die legendäre "Magnum"-Fotografin in das Grenzland und lichtete Heiligenstatuen, Marterln, den in die Weinberge gepflanzten Klapotetz, die sanften Hügelkuppen, welche die Touristiker zur Bezeichnung "Steirische Toskana" veranlassen, ab, weiters das schneebedeckte Brachland, die verfallenen Mauern und Fassaden der Schlosshöfe, die im Licht der Nachmittagssonne glänzenden, vom Wind heftig bewegten Wä-schestücke, die - zwischen Bäume aufgespannt - auf Trocknung warten. Morath besuchte Volksfeste, Tanzgruppen-Vorführungen mit vollmundig lachenden Frauen, Maskenläufe, die das Austreiben des Winters symbolisieren, hielt verwegene Peitschenknaller und furchteinflößende Teufelsmasken auf ihren Schwarzweiß-Filmen fest.

Dazwischen: eine betagte, mit einer zackenbekrönten Papierbrille maskierte Frau in Seitenansicht. Ihr Blick ist dem Boden zugewandt, eine Wollmütze umschließt den faltenzerfurchten Kopf. Umgeben ist sie von jüngeren, in Unschärfe zerfließenden Paaren, die einander umarmen und tanzen. Dieses Foto, aufgenommen an einem Faschingssonntag in der Südsteiermark, ist eines der eindrucksvollsten, weil mit Melancholie erfüllten Bilddokumente im Projekt "Grenz. Räume". Leben, Liebe, Vergänglichkeit: Inge Morath verweist mit dem ihr eigenen Blick auf Allgemeingültiges, schält aus dem Alltag das Besondere hervor. Ein Ausschnitt aus der Realität, der ihr Credo "Ein Auge auf das Motiv, eines auf die Seele" eindrucksvoll unterstreicht. Voll sinnlicher Kraft.

Morath zeigt das Land, wie sie es in ihrer Erinnerung gespeichert hat, die herbe Schönheit eines von Kargheit geprägten Landstrichs: Das alte, abgemagerte Mütterchen mit Kopftuch im Doppelbett unter der Rehkrickel-Sammlung. Der auf einem Brett befestigte Speck im Schloss Gradisce. Der Bauer mit einer Flasche Wein, hierzulande ebenso liebevoll wie respektlos "Hecknklescher" genannt. Der Rauchfangkehrer, der Schnapsbrenner bei der Arbeit.

Inge Morath verzichtet darauf, die Facetten des in Mode geratenen Aussteigerlandes zu dokumentieren, die noblen Gourmettempel, wo Forellensülzchen an Kernölschaum das Backhuhn abgelöst hat, sind ihre Sache nicht. Auch blutgetränkte Land-Stilleben, wie man sie von den Dokumentarfotografien des Literaten Gerhard Roth oder von den Bildwelten Manfred Willmanns kennt, fehlen.

Inge Morath auf den Spuren ihrer Mutter, auf der Suche nach Zeitzeugen aus ihren Kindheitstagen. "Immer wieder tauchten Schatten aus der Vergangenheit auf, teilweise hatte sie große Skepsis. Aber ihr wurde bald klar, dass es hier nicht um eine ,lustige Landpartie' ging, sondern auch um die Aufarbeitung einer politisch unerfreulichen Geschichte", berichtet Regina Strassegger, die Morath gemeinsam mit den Fotografen Branko Lenart und Stojan Kerbler sowie einem Kameramann begleitet hatte. Die Schwächen des in das Programm von "Graz 2003 - Kulturhauptstadt Europas" integrierten Projektes? Einige Anlässe, bei denen Morath auf den Auslöser ihrer Kamera gedrückt hat, wirken zu sehr als "Session" organisiert, die Allgegenwart ihrer mit der Dokumentation beschäftigten Begleitung erscheint als Hemmnis. Geniale Bildschöpfungen, man denke nur an das Morath-Foto eines aus einem New Yorker Taxi blickenden Lamas, lassen sich nicht planen.

Mehr Freiräume für die damals 78-jährige Fotografin, mehr Ruhe und Abgeschiedenheit hätten "Grenz.Räume" vermutlich gut getan. Bei der als "Bilder-Lese-Buch" konzipierten Publikation befremdet, dass nicht nur die Fotografien Inge Moraths, sondern auch mehr als 90 (!) Bilder aufscheinen, die die Fotografin bei ihrer Arbeit zeigen. Die Texte Strasseggers pendeln zwischen Information und Heldenverehrung, zwischen Sentiment und Pathos, der Vermächtnis-Charakter des Projektes ist überbetont.

Staunen über einen weißen Hirschen

Ungeachtet dessen ist "Grenz. Räume" ein wichtiges, auf subjektive wie kollektive Aussöhnung abzielendes Signal. Versuche der Wiederannäherung nach dem Trauma. Moraths Zeitreise sollte mit einer positiven Bilanz enden. Nämlich jener, dass sich die "Grenze zum Guten verändert hat".

Nachforschen in der weitgehend versunkenen Welt des Urgroßvaters, dem machtbewussten Notar und Bürgermeister im damaligen Windischgraz, heute Slovenj Gradec, der den Nachbarn Hugo Wolf gerne zum Klavierspielen eingeladen hatte. Begleiten der Musiker, die zum "Grenzüberschreitungsmarsch" aufspielen. Sich hineindenken in die Persönlichkeit des Grafikers Bogdan Borcic. Staunen über einen weißen Hirschen, der am Abhang äst. Ein Fabeltier?

Inge Moraths visuelle Kraft hat auch auf einer ihrer letzten Reisen zu außergewöhnlichen Ergebnissen geführt. Die Fotos werden im kommenden Jahr in einer Wanderausstellung zu sehen sein. Erst in Graz, dann in Slovenj Gradec, New York, Ljubljana und Budapest.