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20.09.2002 - Ausstellung
Eine Spur unter Blickhöhe: Kaltes, süßliches Fleisch
Den radikalen Realismus in der Malerei will die Wiener Kunsthalle zeigen, doch man konnte sich nicht entscheiden. Ziemlich konservativ.
VON ALMUTH SPIEGLER


Immer muß man sich entscheiden. Geht man rechts oder links? In der Wiener Kunsthalle erreicht man jeweils dasselbe Ziel: viel nacktes Fleisch. An einem Rückenakt von Francis Picabia kommt man nicht vorbei, egal welchen Eingang man in die Ausstellung "Lieber Maler, male mir . . ." wählt.

18 Künstler sollen durch ihre Bilder einen Überblick über den realistischen Stil nach Picabia zu geben. Während des Zweiten Weltkriegs hat dieser an der Côte d'Azur Akte gemalt. Ziemlich platt, als wären sie Pin-ups für die Spinde der Soldaten.

Wenn man diese süßlichen Gemälde zum Anfangspunkt einer Ausstellung macht, ist die Richtung vorgegeben - womit wir beim unvermeidlichen Wort Kitsch angekommen wären. Denn Überraschendes und neue Zugänge zum sogenannten Realismus findet man hier nicht. Realismus wird in der Ausstellung praktisch ausschließlich mit dem Menschen-Abbild gleichgesetzt. Und das wird zumeist alles andere als naturgetreu wiedergegeben. Auch kein Fehler, aber eine Definition des Begriffs bleibt man schuldig. So mischt man bunt durcheinander - Hauptsache figurativ.

Bäume, Blumen, Bären - Flora und Fauna - wurden überhaupt ausgespart. Auf reißerische Namen wollte man allerdings nicht ganz verzichten - doch halten sie sich mit Picabia, Bernard Buffet, Sigmar Polke, Alex Katz, Martin Kippenberger in noch eleganten Grenzen.

Diese Meister bilden auch das Gerüst der Schau, die vielen Jungen zeigen vor allem die Variationsmöglichkeiten. So malt Brian Calvin ein Sittenbild der jungen Bohemien-Gemeinde in Los Angeles. Doch nichts wirkt hohler als die großformatigen Bilder von Alex Katz, dem tiefgekühlten Chronisten der New Yorker Upper-Class.

Da ist im Ausdruck schwer zu konkurrieren: Elizabeth Peyton malt gemäßigt expressiv kleine Porträtbilder. Reizend. Nett ist auch Carole Benzakens meterlange Gemälderolle, auf der sich ein ausschnitthaftes Miniaturbildchen ans nächste reiht. Kurt Kauper hat einen Hang zu Operndiven und bannt fiktive Primadonnen detailgetreu auf Leinwand. Dafür stampert er den "realen" Cary Grant vom Podest, in dem er ihn nackt posieren läßt - mit lächerlichen Bräunungsstreifen.

John Currin nimmt die Skalpell-Schönheiten aufs Korn mit skurrilen Mega-Busen und entstellten Gesichtern und frönt dem Zitieren historischer Stile von Rokoko bis Biedermeier. Ein Zitat ist auch der Titel der Ausstellung, die in Kooperation mit dem Pariser Centre Pompidou und der Schirn Kunsthalle in Frankfurt entstand: Er wurde eins zu eins von Kippenbergers erster Personale in Berlin 1981 übernommen. - Auch ein Bild aus der damals gezeigten Serie ist zu sehen: Kippenberger beauftragte einen Plakatmaler mit realistischen Gemälden zu Themen seiner Wahl, um sein Mißtrauen gegenüber dem Klischee des autonomen Malers auszudrücken. Sein Vorsatz: "die Dinge, die man auf der Straße sieht, anders zu sehen".

Eine etwas andere Begegnung wird einem durch die Hängung der Bilder in der Kunsthalle ermöglicht: Die meisten wurden eine Spur unter Blickhöhe plaziert. So fallen die Schwellen, die Abgebildeten sind mitten unter uns. Besonders schön funktioniert das bei den abgemagerten Frauen von Bernard Buffet. Konsequent schauen sie am Betrachter vorbei. Ihren Blick kann man nur suchen. Sie halten eine Spannung aufrecht, die vielen fehlt. Denn "radikal" will heute niemand mehr sein.



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