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Kunstberichte
Das Spätwerk des Klassikers Alberto Giacometti im Salzburger Museum der Moderne

Blick für das Menschliche

Gelassener Mann, archaische Frau (im Bild: "Caroline sitzend mit aufgestellten Beinen"): Die Giacometti-Schau verrät einiges über die Geschlechterrollen im Werk des Schweizers. Foto: VBK, Wien 2011

Gelassener Mann, archaische Frau (im Bild: "Caroline sitzend mit aufgestellten Beinen"): Die Giacometti-Schau verrät einiges über die Geschlechterrollen im Werk des Schweizers. Foto: VBK, Wien 2011

Von Krista Hauser

Aufzählung Schmale, fast schemenhafte Skulpturen, Porträts und Zeichnungen, die sich noch Jahre nach dem Besuch einer Ausstellung aus dem Gedächtnis abrufen lassen: Toni Stooss, seinerzeit Direktor der Kunsthalle Wien, war dies 1996 mit der ersten Präsentation Alberto Giacomettis in Österreich gelungen. Der großen Retrospektive des Gesamtschaffens folgt jetzt die eindrucksvolle Schau des reifen Werkes – wiederum ausgerichtet von Stooss, nun auf dem Salzburger Mönchsberg in Zusammenarbeit mit dem deutschen Kunstmuseum Wolfsburg.

Neben 50 Skulpturen, 30 Gemälden und Zeichnungen vermitteln auch zahlreiche Aufnahmen aus dem legendären kleinen Pariser Atelier die Persönlichkeit und den Arbeitsprozess Giacomettis. Der Titel der Schau "Der Ursprung des Raumes" verweist auf ein zentrales Thema, mit dem er sich immer wieder auseinandersetzte. "Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen (...). Es gibt nur die Illusion des Raumes", sagte Giacometti einmal.

Eine Frage der Perspektive

In Salzburg ist dieses Erleben des "geschaffenen" Raumes schon im Eingangsbereich der Ausstellung geglückt. Auf einem niedrigen, runden Sockel in Weiß stehen Skulpturen, denen man beim Rundgang noch oft begegnet: der stehenden Frau, dem schreitenden Mann, der mächtigen Plastik eines Kopfes, der wie ein Betrachter der beiden Figuren wirkt. So wie die Werke hier arrangiert sind, hatte sich Giacometti die Gestaltung des Platzes vor der New Yorker Chase Manhattan Bank vorgestellt. Das Projekt konnte er nie realisieren. Doch bis zu seinem Tod im Jahre 1966 hat er sich mit dieser Figurengruppe beschäftigt. Eine der Fassungen des "Schreitenden Mannes" erzielte 2010 bei einer Auktion den Rekordpreis von 74 Millionen Euro. Was beim Umkreisen der Skulpturen überrascht: Je nach dem eigenen Standort, nah oder aus der Distanz, verändern sie sich, wirken mächtiger oder zarter.

Das Phänomen der Wahrnehmung hat den Bildhauer und den Maler fasziniert, zeitweise auch verstört. Figuren in Überlebensgröße wechseln da und dort mit Miniaturen, fragilen, geradezu schrumpfenden Figürchen. Fast alle vermitteln Ruhe, Giacomettis Konzentration auf das ihm wesentlich Scheinende des Menschen. Auch dann, wenn der Mann schreitet, tut er dies gelassen, ohne Dynamik. Nur einer taumelt, sucht Halt und Balance. Auf den Zehenspitzen steht er, auf einem zylindrischen, schweren Sockel; der extrem dünne Oberkörper ist geknickt, die Hand greift in den leeren Raum. 1950 entstand diese, geradezu immateriell anmutende Skulptur mit der Bezeichnung "Taumelnder Mann".

Unter den zahlreichen Frauenfiguren der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es eine einzige, die schreitet. Im geschützten Raum einer "Schachtel", die die Illusion einer Behausung suggeriert, scheint sich die winzige Gestalt von einem Haus ins nächste zu bewegen. Sonst entsprechen Giacomettis langgezogene, dünne Frauen in Bronze dem überlieferten Bild archaischer Göttinnen. Starr, mit eng an den Körper gepressten Armen und schmalen Köpfen, edel und majestätisch.

Als Pendant dazu "Vier Frauen auf einem Sockel", ein Werk, das wegen seiner angeblichen Entstehungsgeschichte die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Bei einem Pariser Bordellbesuch habe der Bildhauer aus der Distanz einige nackte Frauen entdeckt. Trotz aller Lust habe ihn vor allem deren Gruppierung, die Beziehung der Gestalten zueinander interessiert.

Unbekanntes im Vertrauten

Sonst waren es meist vertraute Modelle, die er malte, zeichnete oder in Bronzen gestaltete: sein Bruder Diego, seine Frau Annette, Liebschaften, junge Frauen wie Rita und Caroline, ein Fotograf, ein japanischer Philosoph. Das Individuelle eines Gesichtes, einer Büste herauszuarbeiten und zugleich das Allgemeine: Das hat ihn gefordert. 1962 schrieb Giacometti: "Und das Abenteuer, das große Abenteuer besteht darin, in ein und demselben Gesicht jeden Tag wieder etwas Unbekanntes hervortreten zu sehen, das ist großartiger als alle Reisen um die Welt."

Auch die Ausstellung in Salzburg wird zu einem optischen Abenteuer. In einem Respektabstand kann man die frei stehenden Figuren umkreisen; Durchblicke von einem Raum zum nächsten verändern Sehgewohnheiten. Und neben bekannten Highlights wie "Der Wald", "Schreitender Mann im Regen", "Der Käfig" oder "Frau für Venedig" begegnet man auch zahlreichen Porträtbüsten, deren Blick auf den Betrachter fällt. Diesem bisher noch wenig erforschten Kapitel im Gesamtschaffen Giacomettis hat Toni Stooss nachgespürt.

Aufzählung Ausstellung

Alberto Giacometti. Der Ursprung des Raumes.
Museum der Moderne Salzburg
bis 3. Juli

 

Printausgabe vom Donnerstag, 31. März 2011
Online seit: Mittwoch, 30. März 2011 16:33:00

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