Schwarzes und graues Wasser

Gestaltung von Lebensraum, die optimale Ausnutzung von Fläche und Energie sowie die Selbstbestimmung des Einzelnen bestimmen die Arbeit von Joep van Lieshout.


Edwin Lipburger landete wegen Amtsanmaßung im Gefängnis, nachdem er Anfang der 70er Jahre seine Republik "Kugelmugel" im niederösterreichischen Katzelsdorf ausgerufen hatte. Anders gehen heute niederländische Behörden mit einem künstlerischen Staat im Staat um. AVL-Ville liegt am Rotterdamer Hafen, hat eine eigene Verfassung und wurde im Rahmen von Rotterdam Kulturhauptstadt 2001 einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.

Der Niederländer Joep van Lieshout, der als Möbeldesigner und Bildhauer begonnen hat, hat seinen mobilen Freistaat rund um sein Atelier van Lieshout (AVL) im Hafen von Rotterdam gegründet. Der erste offizielle Staatsbesuch findet in der Wiener BAWAG Foundation statt. Bis 26. August sind unter dem Titel "Schwarzes und graues Wasser" in Wien Objekte aus "AVL-Ville" zu sehen - von Entwurfszeichnungen für Sexroboter und Maschinengewehre bis hin zur mobilen Denkzelle und zur Komposttoilette.

Sleep/Study Skull, 1996 (Zum Vergrößern anklicken) / ©Bild: Atelier van Lieshout
Sleep/Study Skull, 1996 (Zum Vergrößern anklicken) / ©Bild: Atelier van Lieshout

Kunst, Design, Leben

"Es interessiert mich nicht, nur Kunstgegenstände zu schaffen. Ein Werk sollte auf mehreren Ebenen funktionieren - als Kunst, Design und Leben," charakterisiert van Lieshout seine Arbeit in einem Interview mit dem Magazin Artforum. AVL-Ville funktioniert weniger wie eine Kommune als wie ein Wirtschaftsunternehmen. Von den 35 StaatsbürgerInnen wohnen bisher nur fünf auf dem Staatsgelände, der Rest arbeitet lediglich im Atelier. AVL-Ville hat u.a. eine eigene Fahne und Währung und eine Verfassung, in der Freiheit, Ehrlichkeit und Gleichheit als absolute Werte verankert sind. Im Übrigen sind Moral und Politik jedem selbst überlassen.

AVL-Ville, Rotterdam 2001 / ©Bild: Atelier van Lieshout
AVL-Ville, Rotterdam 2001 / ©Bild: Atelier van Lieshout

Schwimmende Abtreibungsklinik

Das Team um Lieshout macht Kunst, die ihre Autonomie dazu nützt, die Welt zu erobern: AVL-Ville ist ein mobiler Staat mit Wohncontainern, einer Farm, zwei Krankenhäusern - darunter eine schwimmende Abtreibungsklinik für Frauen aus Ländern, in denen Abtreibung verboten ist -, einer Akademie (mit einem speziellen Bildungsangebot wie etwa "Freunde dich mit einer Kuh an" oder "Mach etwas ganz langsam"), ein Restaurant und Transportunternehmen - auch für auswärtige Gäste - und eine Waffenfabrik. "Ohne eigene Armee wird ein Staat nicht ernst genommen", so van Lieshout, den an der Waffenproduktion neben dem künstlerischen auch der Aspekt der Provokation interessiert.

"Wiener Küche"

Sämtliche Gebrauchsgegenstände werden im eigenen Atelier - und zwar nie als Unikate - hergestellt, wobei van Lieshout mit Vorliebe Polyester insbesondere als Verkleidungsmaterial verwendet und technisches Raffinement mit ökologischem Anspruch und Design verbindet.

Wall Model, 1997 / ©Bild: Atelier van Lieshout
Wall Model, 1997 / ©Bild: Atelier van Lieshout

In der BAWAG Foundation ist neben der beeindruckenden türkisfarbenen, drei Meter hohen Komposttoilette eine Wasser-Kläranlage aus drei mit verschiedenfarbigen Schläuchen verbundenen Tanks und Filterwannen zu sehen. Für Wien entstanden außerdem die "Wiener Küche" u.a. mit Schlachtblock, Gulaschkanone, Waschbecken und Räucherofen, sowie ein "Wiener Esszimmer" - eine lange Holztafel mit Stühlen und "AVL-Männern" aus Polyester. Dem Betrachter steht es frei, wie er sich den Arbeiten nähern möchte.

Mobile Denkzelle

Porträt Joep van Lieshout / ©Bild: Atelier van Lieshout
Porträt Joep van Lieshout / ©Bild: Atelier van Lieshout
Gezeigt wird auch eine "Mobile Denkzelle" - eine Rückzugsmöglichkeit von der Welt, eine abgeschlossene Kabine aus Polyester, in die sich der Besucher begeben kann. Die Idee dazu basiert auf der Theorie der Orgonen-
Akkumulatoren des österreichischen Psychiaters Wilhelm Reich. In diesen Reich'schen "Sex-Kisten" wirkt, Reich zufolge, eine rätselhafte, eigene Lebenskraft, die von ihrer eigenen Konzentration angezogen wird und in geschlossenen Räumen am besten funktioniert.

Ein multifunktionaler Wohncontainer van Lishouts war bereits in Wien zu sehen: Studenten und Passanten genossen letzten Winter Punsch und Musik vor der Keks-Hütte im Ressel-Park.

Ohne Titel, 1998 (Autokrat) / ©Bild: Atelier van Lieshout
Ohne Titel, 1998 (Autokrat) / ©Bild: Atelier van Lieshout

Modell mit Zukunft

Van Lieshout sieht AVL-Ville übrigens durchaus als ausbaufähiges Modell mit Zukunft. "Wir würden gerne expandieren und ein weltweites Franchising-System aufbauen. Keinen Staat, der größer und größer wird, sondern Inseln über den Raum verteilt: AVL Westküste, AVL Ostküste, AVL Asien."

Tipp:

"Schwarzes und graues Wasser", Arbeiten des Ateliers van Lieshout (AVL), von 10. Mai bis 26. August in der BAWAG Foundation, 1., Tuchlauben 7a; täglich von 10 bis 18 Uhr.

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