Salzburger Nachrichten am 3. Jänner 2006 - Bereich: Kultur
Unendliche Akkordarbeit

639 Jahre soll ein Stück von John Cage dauern, das in einer Kirche in Halberstadt "so langsam wie möglich" gespielt wird. Am 5. Jänner erklingt der nächste Akkord.

SABINE HEIMGÄRTNERHALBERSTADT (SN, dpa). Musikexperten werden wieder aufhorchen, wenn am Donnerstag in der Burchardikirche im sächsischen Halberstadt ein neuer Akkord erklingt. Das Orgelstück des Komponisten John Cage, (1912-1992), das auf eine Spieldauer von 639 Jahren angelegt ist, wird dann um drei Töne reicher sein. Zu dem seit 5. Juli 2005 klingenden E-Dur-Akkord gesellen sich ein A, ein C und ein Fis.

Das wohl originellste Experiment in der Musikgeschichte versucht sich in unendlicher Langsamkeit: Die Partitur von John Cage enthält die Spielanweisung "as slow as possible". Genauso langsam geht auch der Bau der Orgel vor sich, die Ton für Ton erweitert wird.

Zusammen mit dem E-Dur-Klang werden die drei neuen Töne ein helleres Timbre ergeben, das die große romanische Kirche in Halberstadt, früher auch Scheune, Schnapsbrennerei und Schweinestall, bis zum 5. Mai 2006 Tag und Nacht erfüllen wird. Dann wird es wieder einen Tonwechsel geben, den letzten bis 2008. So sieht es die Partitur des amerikanischen Komponisten Cage vor, der mit seiner Tempovorschrift bei Musikwissenschaftern die entscheidende Frage für das Halberstädter Projekt aufgeworfen hat: Wie langsam ist "so langsam wie möglich"?

Georg Bandarau, Mitglied im Vorstand der John-Cage-Orgel-Stiftung, liebt es, interessierten Besuchern die verrückte Entstehungsgeschichte der einzigartigen Orgel zu erklären, die etappenweise für nur eine Aufführung dieser einzigen Komposition gebaut wird. "Ist das Stück zu Ende, wenn der Organist stirbt oder erst dann, wenn die Orgel auseinander bricht?", fragt Bandarau. Solche und ähnliche Fragen stellten sich die Musikwissenschafter vor zehn Jahren bei einem Orgelsymposium in Trossingen und kamen zu dem Ergebnis, dass man Cages 1987 entstandenes Orgelwerk theoretisch unendlich lang spielen kann.

Um dem Projekt zumindest ein fiktives Ende zu geben, besannen sich die Experten auf die Geschichte der Orgel, die in Halberstadt erfunden wurde. 1361 wurde hier die erste Großorgel der Welt gebaut, zum Jahrtausendwechsel 2000 war dieser Meilenstein der Musikgeschichte genau 639 Jahre her.

Ort und Geburtsstunde des Cage-Projekts waren mit diesen Überlegungen gefunden: In Halberstadt sollte das Stück von John Cage für die Dauer von 639 Jahren aufgeführt werden, gespiegelt an der "Zeitachse" des Jahres 2000, beginnend übrigens mit einer langen Pause am Anfang des Werkes.

Die Partitur wurde für dieses Vorhaben rasterartig eingeteilt, neun Mal 71 Jahre.

Nicht nur beim Fachpublikum erregt die klangliche Entdeckung der Langsamkeit weltweites Aufsehen. "Mehr als 2000 Veröffentlichungen gibt es bislang. Jährlich kommen etwa 10.000 Besucher, um die Cage-Orgel zu sehen und zu hören", berichtet Bandarau. Noch ist das Instrument relativ klein, die Tasten, die den derzeit benötigten drei Pfeifen die sechs Dauertöne entlocken, sind mit Sandsäckchen beschwert.

Im Laufe der Jahrhunderte soll das Instrument weiter ausgebaut werden und eines Tages insgesamt 180.000 Euro kosten, für deren Aufbringung die Cage-Orgel-Stiftung eine originelle Idee hatte: Interessierte können für 1000 Euro einzelne Klangjahre kaufen, eine Namensplakette in der Kirche inklusive. 48 Jahre und ihre jeweiligen Töne sind bereits veräußert.