Hauptausgabe vom 16.09.2002 - Seite 006
BRUCKNERFEST 2003: Auszüge aus der Festrede des im deutschen Exil lebenden persischen Schriftstellers SAID

ein kind auf der suche nach europa

und das kind meint, ob es bleibe oder gehe, sei nicht von belang. wichtig allein sei, es merke und bemerke sein fremdsein - schon allein deswegen wolle es bleiben. es sei schließlich ein unabkömmlicher fremder - geworden. denn es habe nun sein licht, sein eigenes. es sagt, es wolle dieses mal, dieses licht, nicht verlieren; denn dieses kind braucht eine konstante ¼

¼ er sagt, jenes licht sei unerlässlich, für einen, der träumt -

mit aufgerissenen augen und einem dritten ohr. dieses habe er in der fremde hinzubekommen und sei dankbar dafür - denn das dritte ohr höre mitunter auch das wehende ¼

¼ er sagt, jene sprache habe ihm eine bleibe geboten. und er könne sich nicht vorstellen, dass ihn je jene sprache verlasse. sie sei ihm flügel und gebrechen zugleich.

und er wisse, jenes licht sei hart, aber wahrhaftiger als die schwüle der vaterländer und wahrhaftiger als das talmi der assimilation¼

¼und der fremde sagt, vielleicht habe er glück gehabt, dass er seiner heimat entkommen sei.

wer weiß, wie sehr er sich dort entfremdet hätte - von sich selbst. dass er fremd geblieben sei. wer weiss, wie verloren er sonst wäre - hier ¼

¼ und er sagt, er wolle beiden treu bleiben, jenem licht und dieser sprache.

seither weilt nun das kind in einem zwischenland - zwischen zwei flüssen.

hier der persische, dort der deutsche; jeder stillt einen anderen durst.

im einen, dem persischen, zählt das kind - heute noch.

der andere, der deutsche, zählt das kind aus - noch immer.

das stumme denken findet auf persisch statt; das dialogische auf deutsch¼

¼ein innenhof, im süden, unter dem blauen himmel, vor dem schwarzen tuch des fotografen: das kind, in einem plissierten kleid, mit einer sonnenbrille, übergroß und modisch; das licht - hell und ruhig.

ein flughafen im norden, das kind - 15 jahre später - in der hand einen koffer, voller unnützer dinge. das licht: grell und hektisch.

dieses nasse, trübe, dunkle, rasende europa.

zwischen diesen bildern taumelt noch immer das kind.

das erste weit entrückt und dennoch vertraut, das zweite nah und dennoch fremd¼

¼das kind sucht.

das kind schreibt gedichte, um herauszubekommen, wohin es mit ihm will.

zu jenem licht im süden, in einer rückwärtsgewandten treue?

zu den vielen flughäfen des nordens, in einer rasenden hybris?

gedichte als probates mittel gegen das ghetto?

das kind schreibt gedichte gegen das fremdsein und wird durch seine gedichte fremd. das gedicht, die schmale brücke zur kindheit, ein ort des vergessens - wo die flucht zu ende ist? ¼

¼ das kind erinnert sich mit wollust an seine ersten berührungen mit seinem europa.

das kind war vielleicht vierzehn oder fünfzehn jahre alt, ein halbwüchsiger, der mit einer unausgegorenen wut auf die diktatur sich aufmachte, die freiheit zu suchen.¼

bald verließ der halbwüchsige seine heimat. endlich! keine zensur mehr! kein verbot!

in die arme europas! in den schoß der freiheit!

gerade die freiheit und die europäischen freunde jedoch zeigten ihm ein anderes gesicht europas, ein hässliches. er erfährt, dass der geheimdienst seines landes beste beziehungen pflegt zum "intelligence service", zum "deuxieme bureau", zum "verfassungsschutz", die den kollegen in teheran mit spitzelarbeit und informationen zur hand gehen. aber damit nicht genug. er erfährt, dass auch die folterinstrumente aus europa stammen - aus seinem europa! ¼

¼ europa, du verkaufst nicht nur alles, du willst auch alles kaufen. und der exilierte liest in deinen zeitungen, wo überall in der welt deine bürger einfallen, die harte währung in den taschen: in zimbabwe zum golfspielen, in peru zum kinderholen, in thailand zum erwerb jungen fleisches, in paraguay zur farmgründung, in indien zum organpflücken. und voller verwunderung bemerkt er, dass du zwei drittel dieser welt "entwicklungsländer" nennst, um ihnen überall zu hilfe eilen zu können - mit dem erfolg, dass diese immer ärmer werden, und du immer reicher. und er fragt sich, ob diese divergenz die logische folge deiner freiheit ist?

¼ und der gealterte flüchtling - nun zu einem zwischending geworden aus zwei welten - liebt und sucht sein europa weiter. und er hofft, dass dieses europa, als kulturraum erst während der zeit der völkerwanderung entstanden, mehr ist als eine finanzschimäre, dass es sich nicht in eine festung verwandelt, sondern ein geschenk bleibt, für alle, die freiheit suchen.

"gottes ist der orient! gottes ist der occident!" schrieb goethe in seinem ost-westlichen diwan.

doch das kind fragt sich, was von jenem orient geblieben ist:

ein abziehbild europas aus plastik, wirtschaftlich ruiniert, politisch paralysiert. bestenfalls dient dieser orient dem okzident als atommülllager, als absatzmarkt und als alibi für strafaktionen und kommende kreuzzüge.

das kind ernährt sich noch immer von dialog und weiß inzwischen: voraussetzung für einen dialog ist, dass man schwäche zeigt. die eigene. und dass bei einem dialog zwischen zwei sprachen, zwischen zwei kulturen, das entscheidende oft der gestus ist¼

¼der gegenwärtige dialog zwischen dem westen und dem islam erinnert das kind an ein gespräch zwischen einem tauben und einem blinden. der eine ist taub, weil saturiert; der andere blind, weil er nur auf sich schaut. der taube produziert, zuweilen auch waffen, der blinde setzt sie ein, zuweilen gegen den tauben. aus diesen starren attitüden entsteht dann das schlagwort "kampf der kulturen". das kind ist überzeugt, dass sich die kulturen immer gegenseitig gestützt haben - auch und gerade in den zeiten des unfriedens.

ist osama bin laden ein teil dieses kampfes?

"liebe - und tue, was du willst", sagt augustinus.

wie weit ist george w. bush von diesem augustinus entfernt? wie weit vertritt jener präsident überhaupt das christentum? und wie weit jener andere den islam? ein präsident, der "die achse des bösen" erfunden hat - eine formulierung, die von seinem zwillingsbruder stammen könnte - von jenem phantomhaften bin laden, gezüchtet von der cia, gesucht vom fbi. auch er bezieht sich auf einen gott. kann man aber gott lieben und seine geschöpfe hassen?

das kind lehnt die wahl zwischen bush und bin laden ab¼

¼das kind glaubt, dass die logik des präsidenten, "wer nicht mit uns ist, ist für die terroristen", eine terroristische logik ist. so wie die sprache des einen - "göttliche mission" - sehr an die des anderen erinnert¼

¼und das kind sucht mit den in europa erworbenen instrumentarien nach seinem europa. und es kommen noch wanderer von den abgebrannten rändern und behaupten, sie hätten europa gesehen. ihre berichte widersprechen sich, und gerade in diesen widersprüchen versucht das kind, das konterfei seines verlorenen kontinents zu rekonstruieren.

mitunter heißt es in ihren berichten: europa sei ein alter seelenverkäufer, voller atommüll, auf der suche nach einem hafen in der dritten welt, um sich zu entladen; zugleich verkaufe er die menschenrechte¼

¼und die, die ständig an die ränder abgedrängt wurden, sagen, europa sei eine siebenzüngige retortensirene, deren synthetischer gesang die schiffe der flüchtlinge an die klippen locke. sie ziehe dann weiße handschuhe an und lasse sich von staatlichen fernsehanstalten filmen. anschließend lasse sie den film in jene gebiete senden, aus denen die flüchtlinge stammen.

und es gibt auch vorwitzige, die überzeugt sind, europa sei ein verbitterter alter mann im blauen overall mit einem eimer farbe in der hand. er gratwandere an den virtuellen rändern des fortschritts, ziehe eine rote linie zwischen den fronten und achte akribisch darauf, daß niemand seinen fuß über diese linie setze.

und die verwegenen flüstern, europa sei ein mickriger, griesgrämiger mann, der mit einer lupe in der hand auf den verregneten straßen des nordens umherziehe und die hautfarbe der fremden untersuche. er habe angst vor einer durchrassten gesellschaft - ungeachtet der dramatischen schrumpfung der eigenen bevölkerung. und er wisse, dass die bevölkerung der nachbarländer sich vermehre und verjünge - und ziehe daraus seine irrlehre: er befürchte nun einen neuen krieg - den krieg der kulturen.

und das kind, nun seit 37 jahren auf der flucht - auch mit seinen lügen - auf diesem kontinent, behauptet noch immer, es werde hier nicht gebraucht. zuweilen übersieht das kind, wie reich es von diesem kleinstkontinent beschenkt ist:

das kind kann hier frei denken, seine gedanken frei äußern und arbeiten ¼

¼ und, dieses europa erlaubt ihm gar, nach eigener fasson unglücklich zu sein -

eine wohltat für ein gezeichnetes kind ¼

¼ hier bist du gealtert, auf der flucht, hier bist du schön - weil du suchst.

doch was du suchst, was du noch immer europa nennst, ist es nicht die summe jener substanziellen schönheiten, die du von deinem europa gelernt hast?

dass gleichheit die brüderlichkeit nicht ausschließt;

dass brüderlichkeit die freiheit bedingt;

dass freiheit immer die freiheit der anders denkenden ist;

dass die wahrheit keine uniform verträgt und immer neue masken benötigt;

dass ethik weder nationale noch andere grenzen kennt.

und genügt dir nicht, mein freund, was du mit dem herzen gelernt hast?

genügt dir nicht der weg, der dich beflügelt, der dich begleitet -

bis an die außenhaut der liebe?

Den vollständigen Text der Festrede lesen Sie auf www.nachrichten.at

SAID: Denken auf Persisch, Dialoge auf Deutsch

1947 in Teheran geboren, verließ er als 18-Jähriger seine Heimat, um in Deutschland zu studieren. Dort wurde er Teil der Studentenbewegung, protestierte gegen den Schah-Besuch in Deutschland, und damit war ihm der Weg zurück versperrt. Der junge Mann legte sich einen Namen in der Emigration zu und nannte sich SAID und wurde Schriftsteller.

Die islamische Revolution 1979 brachte weder ihm noch dem Iran den "Frühling der Freiheit", sein Schicksal sollte das Exil werden. SAID, in München lebend, erlernte die deutsche Sprache und schreibt seine Bücher auch in Deutsch. Seine literarische Kompetenz manifestiert sich vor allem in seinen Büchern wie den Tagebuchnotizen "der lange arm der mullahs. notizen aus meinem exil" oder "selbstbildnis für eine ferne mutter" und in seinen lyrischen Arbeiten "liebesgedichte", "wo ich sterbe, ist meine fremde", "sei nacht zu mir".

SAID, mit dem Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet, wurde im Mai 2000 in das Amt des Präsidenten des deutschen PEN berufen, eine Funktion, die er bis zum April dieses Jahres inne hatte. Jahrelange erfolgreiche Arbeit leistete er auch als Beauftragter für "Writers in prison". Er gilt zudem als einer der Vorkämpfer der iranischen Literatur in Deutschland.


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