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Viennale: Setteles Künstlerporträt "Erwachen aus dem Schicksal"

"Ich bin die Person im Spiegel. Aber die Person im Spiegel ist nicht ich." Über tausend Selbstporträts "in verschiedenen seelischen Zuständen" hat der Vorarlberger Künstler Edmund Kalb (1900-1952) gezeichnet.

Wien (APA) - Was ihn antrieb, war der Versuch, emotionale Bewegungen und Denkprozesse sichtbar zu machen. Und zwar sowohl mit den Mitteln der Kunst als auch der Wissenschaft. Kalbs Landsmann Stefan Settele hat dem ungewöhnlichen Grenzgänger seine filmische Hommage "Erwachen aus dem Schicksal" gewidmet, die am Sonntag im Rahmen der Viennale gezeigt wurde.

Kunst war für Kalb auch ein Mittel, der kleinbürgerlichen Enge des Elternhauses zu entfliehen. Für den Vater, der selbst malte, war er ein "Schmierer", für den Papier und Farben zu schade waren; die Mutter hielt ihn vom Umgang mit Altersgenossen insbesondere weiblichen Geschlechts ab und läutete ihn mit einer Glocke zurück, sobald er sich zu weit vom Haus entfernte. Vielleicht sind es diese Einflüsse, die sich in vielen von Kalbs Selbstbildnissen als wirre Energie-Linienbündel manifestieren und ihn fast auszulöschen drohen. Dafür wachsen Planentenbahnen aus seinem Kopf, der von Symbolen des Mikrokosmos umgeben ist, der Unendlichkeitsschleife oder dem Plus-Minus-Zeichen.

Kalb reduzierte seine Porträts bis zur völligen Abstraktion. Viele seiner Arbeiten wurden zerstört - der Einzelgänger galt seiner Umgebung als "nicht recht bei Trost". Er entwickelte einen Plan, wie man seelische Vorkommnisse mit Hilfe technischer Geräte in Kurven umwandeln könne. Statt Brot zu kaufen, steckte er sein Geld in wissenschaftliche Bücher, betrieb Mathematikstudien und lernte Esperanto, um mit dem Ausland zu kommunizieren. Dass der "Querkopf", der sich gern Vorgesetzten und Behörden widersetzte, im Zweiten Weltkrieg nur eingesperrt und nicht vors Kriegsgericht gestellt wurde, scheint ein kleines Wunder.

Irgendwann brach Kalb die bildende Kunst ganz ab und beschäftigte sich nur mehr mit Denken, wobei er Wissenschaft auch als Kunst verstand - "im Gedankenausdruck". Er lernte Hemdenschneidern und Handarbeit, um autark zu werden, experimentierte im Gartenbau und wurde Selbstversorger. Als man nach dem Krieg eine fremde Familie bei ihm zwangseinquartierte, legte er sich mit dem Gerichtsvollzieher an und landete wieder im Gefängnis. "Untersuchter konnte und kann auch jetzt nicht einsehen, dass irgend einer den anderen und ihm seinen Willen aufzwingen dürfe, nur deshalb, weil der andere durch Zufall eine höhere Stellung habe", heißt es im Gutachten des amtlichen Psychiaters.

Setteles Porträt macht mit dem eigenwilligen und kaum bekannten Werk Kalbs vertraut, das in seiner Qualität und Konsequenz Fachleuten als unvergleichlich gilt. Aus den Kommentaren und Erzählungen von Kunstexperten und Weggefährten aus Kalbs Leben wird dessen komplexer Charakter plastisch und seine Geisteswelt nachvollziehbar. Setteles eigener künstlerischer Gestaltungswille geht allerdings zum Teil auf Kosten der dokumentarischen Information.

So werden weder die Namen der Interviewten und ihre Funktion bzw. ihre Beziehung zu Kalb ausgewiesen noch das eingespielte Archivmaterial - Zeitgeschichtliches aus der Nazizeit, Schwarzweiß-Filme, die Kalb in der Natur zeigen und ein späteres Interview mit ihm - kommentiert oder datiert. Unbeholfen kunstbeflissen wirken einige gespielte Szenen, in denen Originaldokumente aufgesagt oder gelesen werden. Und ob man manche computergenerierte Sequenzen als adäquate künstlerische Aneignung von Kalbs Geisteswelt oder als Vereinnahmung empfindet, mag eine Geschmacksfrage sein.
2002-10-21 10:29:03