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20.10.2005 - Kultur&Medien / Ausstellung
Die Schwermut wohnt im Bild
VON JENS E. SENNEWALD
GRand Palais in Paris. Von der Antike bis heute: 200 Werke zu "Melancholie: Genie und Wahnsinn im Abendland".

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eisterstiche von Albrecht Dürer wurden 1933 im Pariser Petit Pa lais gezeigt. Darunter das Urbild des Weltschmerzes: Melancolia I. Dürers düsterer Engel blickt inmitten von geometrischen Formen finster auf die Welt. Ein hagerer, bedrückter Künstler blieb lange davor stehen. Dann eilte er ins Atelier, bildete aus Gips das im Stich gezeigte Vieleck nach. Alberto Giacomettis skulpturales Echo steht heute, 72 Jahre später, im Grand Palais, nur einen Saal entfernt von Dürers bedeutungsgeladenem Stich von 1514.

Die Bildgeschichte der Trauer des abendländischen Geistes reicht zurück bis zu Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr. Oft hat die Melancholie ihr Gesicht und ihre Vorzeichen verändert. Als Saturnismus wurde sie dem Gott verknüpft, der seine Kinder fraß. Als Mondkrankheit ist sie eine Quelle der Werwolf-Legenden. Das Mittelalter nannte sie "acedia" - eine der Todsünden. Sie wurde der schwarzen Galle zugeschrieben, mit dem Herbst assoziiert, als Psychose, Neu-rasthenie, Neurose bezeichnet. Mit der Aufklärung rückte die Melancholie zur edlen Seelenkrankheit auf, wurde in Klassik und Romantik zur exaltierten Künstlergeste ausgebaut und sank im 19. Jahrhundert zur banalen psychischen Krankheit herab.

Heute wird sie mit der Depression identifiziert. Doch diese Abspaltung der Krankheit von ihrer Bild- und Kunstgeschichte hinderte Künstler und Philosophen nicht, weiter am Mythos der Melancholie zu arbeiten. Für die einen Krankheit, wurde sie für die anderen Lebensstil, "Spleen" des Flaneurs. Jean Starobinski, dessen Studie zur Melancholie-Behandlung von 1960 zu den Standardwerken zählt, sieht in ihr eine Distanznahme des Bewusstseins zur "Entzauberung" der Welt. Zugleich verzaubert sie.

Ihre Bildgeschichte lässt sie auch als Krankheit der Kunst erscheinen. Denn, das zeigt eine Reihe wunderbarer Selbstporträts von Goya über Caspar David Friedrich bis hin zum jungen Picasso, wie die Melancholie Sujet der Kunst, so waren die Künstler Subjekt der Melancholie. Die Schwermut wohnt im Bild.

Es ist eine der großen Leistungen dieser Ausstellung, die Werke, die die Melancholie nicht nur dargestellt, sondern auch mitgestaltet haben, in einem historiografischen Rahmen zu sammeln. Der Besucher kann Meisterwerke wie Friedrichs Blick auf Arcona bei Mondaufgang (1805/06), seinen Mönch am Meer (1808) und Arnold Böcklins Toteninsel (1883) nebeneinander sehen. Sonst müsste er dafür zwischen der Albertina und der Berliner Nationalgalerie pendeln. Er kann Formähnlichkeiten zwischen dem Totenschädel, auf den George de la Tours "Madeleine à la veilleuse" von 1640 die Hand legt, und Picassos Bronze-Totenkopf von 1943 erkennen. Er kann mittelalterliche Darstellungen der Versuchung des heiligen Antonius von Lucas Cranach, Martin Schongauer oder Hieronymus Bosch mit Max Ernsts Gemälde "Triumph des Surrealismus" von 1937 vergleichen. Oder über die Präsenz moderner Tragik in Ron Muecks hyperrealistischem "Großen Mann" von 2000 und Anselm Kiefers Bleiflieger-"Melancholia" von 1989 staunen.

Die Ausstellung macht ikonografisch den "Pendelgang zwischen mythischer und wissenschaftlicher Auffassung" erkennbar, wie der Kunsthistoriker Aby Warburg es nannte. Für Hauptkurator Jean Clair ist sie vor allem ein "großes Panorama der Darstellungen der Melancholie im Abendland". Im Hang zum Prateresken, zum Cancan im Trauerkleid, liegt ihre Schwäche. Hübsch hat man im "Kleinen Museum der Melancholie" Passendes arrangiert: Giacomettis Plastik, eine ausgestopfte Fledermaus, Giorgio de Chiricos "Mélancholie hermétique", die Wachs-Miniatur eines Verwesenden.

Kulturwissenschaftlich ist die Schau eine Bilanz, fügt den Erkenntnissen des "Saturn und Melancholie" von Saxl, Panofsky und Klibansky (1964) und der "Rhetorik der Leidenschaft" von Barta und Geissmar-Brandi, vor einigen Jahren von Wien aus konzipiert, keine wirklich neue These hinzu. Sehenswert ist sie. Und sei es nur für Dürers Stich.

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