30.10.2001 09:54:00 MEZ
Spekulationen um "documenta"-Künstler
Politische Fragen auf der Tagesordnung

Kassel - Von Kunst war im Zusammenhang mit der elften Weltkunstschau "documenta" bisher kaum die Rede. Okwui Enwezor, der Leiter der Kasseler 100-Tage-Ausstellung, die im Juni kommenden Jahres ihre Tore öffnen soll, hat zunächst politische Fragen auf die Tagesordnung gesetzt: Auf vier so genannten Plattformen überall in der Welt sollen Wissenschaftler und Bürgerrechtler über Demokratie, Globalisierung oder kulturelle Unterdrückung diskutieren und damit den theoretischen Überbau zur Ausstellung liefern.

In der Kunstszene aber wächst die Ungeduld:

Enwezor, so heißt es, möge sich endlich einmal zu seinem künstlerischen Konzept äußern und - das vor allem - die eingeladenen Künstler benennen. Doch bis zur offiziellen Bekanntgabe im April 2002 will Enwezor schweigen. Nur so viel ließ er sich bis jetzt entlocken: Rund hundert Künstler sollen es insgesamt werden, aus allen Genres und von jedem der fünf Kontinente. Darüber hinaus sollen allenfalls einzelne Namen im Voraus preisgegeben werden. Der Rest bleibt den Spekulationen überlassen, die sieben Monate vor der Eröffnung bereits prächtig gedeihen.

Die in Regensburg erscheinende "Kunstzeitung" veröffentlichte eine Liste mit rund 70 Künstlern als "vorläufige Mann- und Frauschaftsaufstellung für die documenta 11" - zusammengestellt auf der Grundlage von Gerüchten, Vermutungen und vertraulichen Insider- Informationen. "Das sollte in erster Linie eine provokative Maßnahme sein, um etwas Leben in die Bude zu bringen", erklärt der stellvertretende Chefredakteur, Jörg Restorff. "Wir wollten etwas gegen die Blockadepolitik der "documenta" tun." Wie hoch die Trefferquote wirklich sei, werde sich erst noch zeigen müssen.

Weniger als 20 Prozent der Namen seien korrekt, meint dagegen "documenta"-Sprecher Markus Müller, der den Vorwurf der Blockade nicht verstehen kann: "Das ist wie im Fußball. Da gibt es auch Aufstellungen, und die werden meist sogar erst am Tag des Spiels bekannt gegeben - und zwar ohne dass sich jemand beklagt." Wer unbedingt schon jetzt Namen wissen wolle, müsse zudem gar nicht spekulieren: "Die Künstler, die bei den Plattformen aufgetreten sind, werden auch in Kassel dabei sein."

Bislang waren das nur zwei: der israelische Filmemacher Eyal Sivan, der für seinen Film "Ein Spezialist" über Adolf Eichmann in diesem Jahr den Adolf-Grimme-Preis erhielt, und der in New York lebende Chilene Alfredo Jaar, der in seinen Installationen Elemente aus Fotografie, Architektur und Theater verbindet und sich zuletzt in einem groß angelegten Projekt mit dem Völkermord in Ruanda auseinander gesetzt hat. Dazu könnten einige der knapp 30 Filmemacher kommen, deren Arbeiten im Rahmen der zweiten "documenta"-Plattform im Mai in Neu Delhi gezeigt wurden - etwa der Franzose Claude Lanzmann ("Shoah") oder Alexander Kluge ("Deutschland im Herbst").

"Bataille- Monument"

Weitere Hinweise auf die Gästeliste gibt eine Serie von Selbstdarstellungen eingeladener Künstler, die die "documenta" zusammen mit einer Mode-Boutiquen-Kette in einer Auflage von 300.000 Exemplaren weltweit kostenlos verteilen will. Zehn dieser Massenkunstwerke sollen bis zum Ende der Ausstellung erscheinen. Das erste - ein achtseitiges Künstlerheft, das in Form und Material an eine Werbebeilage erinnert - gestaltete der Schweizer Thomas Hirschhorn. Er stellt darin sein 1999 in Amsterdam entstandenes Monument für den Philosophen Spinoza (1632- 1677) vor. In Kassel will der 44-Jährige im kommenden Jahr ein "Bataille- Monument" errichten.

Die elfte "documenta" soll vom 8. Juni bis zum 15. September 2002 dauern. Die 1955 von dem Kasseler Maler und Kunstprofessor Arnold Bode aus der Taufe gehobene Ausstellung wird seit 1972 im festen Fünf-Jahres-Rhythmus organisiert. Sie gilt als eine der weltweit angesehensten und traditionsreichsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst. Die Französin Catherine David, Leiterin der vergangenen "documenta" im Jahre 1997, hatte die Weltkunstschau zu einem neuen Rekord von 631 000 Besuchern geführt und erstmals sogar einen satten Finanzüberschuss von 1,4 Millionen Mark (715.000 Euro) erwirtschaftet.

(APA)


Quelle: © derStandard.at