Wassily Kandinskys Entwurf zu "Improvisation 30 (Kanonen)" von 1913: ein intensives Blatt, dessen Farben (Gouache, Aquarell, Tusche und Kreide) und Linien den Eindruck großer Lautstärke vermitteln. Es scheint geradezu eine Komposition von Arnold Schönberg zu visualisieren.
Die Albertina blickt nun auf dessen Arbeiten auf Papier und zeigt, was die Gruppe ohne gemeinsamen Stil zusammenhielt.
Wien - "Es gibt relativ wenige Menschen, die imstande sind, rein musikalisch zu verstehen, was Musik zu sagen hat", stellte Arnold Schönberg 1912 in seinem Aufsatz Das Verhältnis zum Text fest. "Da der Musik als solcher Stoffliches fehlt, suchen die einen hinter ihren Wirkungen rein formale Schönheit, die andern poetische Vorgänge. Die Fähigkeit des reinen Schauens ist äußerst selten".
Einer dieser raren Menschen, der verstand, was "nur durch Töne sagbar" ist, war Wassily Kandinsky. Am 1. Jänner 1911 lernte er Franz Marc kennen, tags darauf besuchten sie gemeinsam ein Schönberg-Konzert in München. Kandinsky war vollends begeistert: Die Atonalität schien ihm wesensverwandt mit seiner immer abstrakter werdenden und dem "Geistigen in der Kunst" verpflichteten Malerei: "Das selbständige Gehen durch eigene Schicksale, das eigene Leben der einzelnen Stimmen in Ihren Kompositionen ist gerade das, was auch ich in malerischer Form zu finden versuche," schrieb er dem Komponisten.
Liebe zum Blau ...
Ein erster Brief und Auftakt zu einer langen Freundschaft, die erklärt, warum der zitierte Essay Schönbergs im Almanach Der Blaue Reiter erschien. 99 Jahre ist es her, dass dieses programmatische Druckwerk, das bestrebt war, die Spuren einer neuen Formen verpflichteten Kunst einzusammeln, zum ersten - aber auch zum letzten - Mal erschien. Und ganze 100 Jahre ist es nun her, dass Marc und Kandinsky unter dem Namen Blauer Reiter ("Beide liebten wir Blau, Marc Pferde, ich Reiter.") eine Gruppe von Künstlern vereinigte, die nicht etwa ein gemeinsamer Malstil verband, sondern vielmehr ihr Wegstreben vom Naturalismus, ihr Loslösen von dem, was das Auge sieht.
... Farbe des Unendlichen
"Gemeinsam war ihnen das Wissen, dass die Welt sich nicht allein im Materiellen, im Sichtbaren erschöpft", so Klaus Albrecht Schröder, der nun mit 100 Werken der Albertina und rund 150 Arbeiten aus dem Münchner Lenbachhaus ein umfassendes Bild dieser im Stilpluralismus so aktuellen und darin absolut einzigartigen Gruppe entwerfen will.
Insbesondere Kandinsky, der dem theosophischen Gedankengut sehr nahe stand, ging es um innere Vorstellungswelten, um Spirituelles, um Energien und Astralleiber, die in seinen Bildern etwa in lichten Farbfeldern rund um Menschen, aber auch Tieren oder in konzentrischen Kreisformen sichtbar werden. Paul Klee formulierte es so: "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar." Das Blau, das später Yves Klein als Symbol des Immateriellen verwendet, passte daher perfekt. Kandinsky: "Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche."
In diesem Sinne, im Verbildlichen innerer Vorgänge, hätte vielleicht auch Egon Schiele - der schriftlich vergeblich um Aufnahme anfragte - zur Gruppe gepasst. Die stark sexuelle, fleischliche Komponente seines Werkes war allerdings viel zu körperlich, um zur vergeistigten Essenz der Münchner zu passen.
Bevor der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 die Gruppe zerbersten ließ (Franz Marc und August Macke fielen), realisierte der Blaue Reiter zwei Ausstellungen. Während jene dem Gemälde gewidmete Schau an 20 verschiedenen Orten gezeigt wurde, war die Präsentation ihrer Druckgrafik und Zeichnung 1912 eine einmalige Sache. Die Albertina rückt nun die 99 Jahre lang fast unbeachteten Blätter (u. a. von Alexej Jawlensky, Marianne von Werefkin, Gabriele Münter, Lyonel Feininger und Heinrich Campendonk) in den Fokus. Schon allein quantitativ dominiert Kandinsky, dessen melodischer Tanz der Farben und Linien fesselnde Ouvertüre ist. Faszinierend auch die quirligen Blätter Paul Klees und die immer wieder beängstigenden Werke Alfred Kubins. Franz Marcs dynamische Holzschnitte bestechen auch in kleiner Zahl. Bei den anderen Künstlern bleibt es bei einer ersten, schüchternen Begrüßung. (Anne Katrin Feßler / DER STANDARD, Printausgabe, 4.2.2011)
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