Salzburger Nachrichten am 7. September 2005 - Bereich: kultur
Geschichte(n) in Gesichtern

Eine Gesamtphysiognomie der 2. Republik in 220 Porträts im Wiener Belvedere

Helmut SchliesselbergerWien (SN). "Zu ebener Erde und erster Stock" heißt ein Stück Johann Nestroys. Ein bisschen "Zu ebener Erde und erster Stock" spielen im Jubiläumsjahr auch die Ausstellungen im Oberen Belvedere in Wien. Im ersten Stock geht die teure Großausstellung "Das Neue Österreich" seit Mai auf eine Zeitreise durch die Geschichte der Ersten und der Zweiten Republik.

Zu ebener Erde wurde am Dienstag die ursprünglich als der Beitrag der Österreichischen Galerie Belvedere zum Jubeljahr vorgesehene Schau "Physiognomie der 2. Republik" eröffnet. Die Ausstellung ist nicht der "arme Schlucker" im Nestroy'schen Sinn, geht aber im Vergleich zum multimedial auftrumpfenden Großprojekt im ersten Stock mit bescheideneren und subjektiveren Mitteln an die bildliche Aufarbeitung der 2. Republik heran.

Tausende Fotos sichtete der Publizist Paul Kruntorad, auf dessen Initiative die Schau entstand. 136 Fotos, 58 Kunstwerke und 30 Plakate wählte er aus. Mit jeder der 220 Persönlichkeiten verknüpfe sich eine Legende oder ein "Trivialmythos", erklärt Kruntorad. Es werden intensive Momentaufnahmen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens gezeigt: Karl Schranz nach seinem Olympia-Ausschluss 1972 vor der Menge auf dem Ballhausplatz. Oskar Werner in kurzer Lederhose 1947 vor dem Festspielhaus. Julius Raab beim Verzehr einer Knackwurst im "Sacher". Thomas Bernhard bei einer "Heldenplatz"-Probe.

Auch mehr oder weniger legendäre Karrieren lassen sich nachvollziehen: Die junge "Licht-ins-Dunkel"-Mitarbeiterin Monika Lindner 1978, Abgeordnete Ingrid Wendl 1955 bei einem gewagten Eislauf-Luftsprung, Liese Prokop beim - noch unpolitischen - Hürdenlauf.

Kruntorad ist vor allem auf die Künstlerporträts und Skulpturen stolz, die er teilweise aus Bestandskatalogen und Lagerräumen heimischer Museen ausgegraben hat: ein frühes Arnulf-Rainer-Porträt Maria Lassnigs oder mehrere Wotruba-Skulpturen. Viele Bilder erzählen Geschichten, wie das Porträt "Fritz Wotruba mit blauem Auge", das sein verärgerter Malerkollege Karl Sterrer schuf, oder Alfred Hrdlickas "Selbstporträt mit Papiertschako", das er malte, als er sich endgültig gegen die Malerei entschied.

Keine Schau ohne Skandal. Zur Ausstellung erschienen zwei Bücher. Der Textband wird mit einem Beitrag von Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek eingeleitet. Da einen Tag vor Drucklegung ein Essay von Franz Schuh für das Buch gestrichen worden war, ersuchte Jelinek am Dienstag, ihren Beitrag "als nicht existent zu betrachten und möglichst gar nicht zu lesen".