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20.03.2004 - Kultur&Medien / Ausstellung
Ausstellung: Freuds stumme Zeugen
Das Sigmund-Freud-Museum beherbergt eine neue Installation: Sha'at'nez oder die verschobene Bibliothek.

Vier Bücherregale aus vier verschiedenen Bibliotheken sind im kleinen Gassenlokal des Sigmund-Freud-Museums über- und nebeneinander gestellt. Die Regalreihen sind mit Büchern und Buch-Attrappen gefüllt. Anders als die Vorgänger-Installation - Louise Bourgeoises "Verschlossenes Kind" - kann "Sha'at'nez oder die verschobene Bibliothek" nicht mit spektakulären Blickfängen aufwarten. Die Idee, die die Künstler Michael Clegg und Martin Guttmann vermitteln wollen, erschließt sich dem Betrachter erst bei näherem Hinsehen, beim Betreten und Benutzen der konstruierten Bibliothek. "Sha'at'nez" - der biblische Begriff bezeichnet Verbindungen ohne organische Einheit, bei denen Dinge kombiniert werden, die nicht zusammengehören. In den Regalen stehen Bücher, die einst Sigmund Freud gehört hatten und nun in Bibliotheken in Wien, London und New York verstreut sind. Sie sind aus ihrem ursprünglichen Aufbewahrungsort herausgerissen - insofern verschoben. Außer ihrer Heimatlosigkeit - die Bücher sind stumme Zeugen für das Schicksal ihres Besitzers Sigmund Freud - haben die Bücher auch inhaltliche Gemeinsamkeiten: Sie handeln von der Verschiebung im psychoanalytischen Sinn. Die Verschiebung beschreibt eine Operation der Traumarbeit: Träume entstehen durch die Verfremdung von Traumgedanken. So kann deren Inhalt bewahrt werden, ohne dass der Träumende sich "verrät". Bei der Verschiebung im Freud'schen Sinn wird die Verfremdung dadurch erzielt, dass der Mittelpunkt der Traumgedanken an die Peripherie verlagert wird und umgekehrt.

Durch die Anordnung der Installation wird das Vertrauen in fest gefahrene Standpunkte und in das Funktionieren von Institutionen zerstört. Die schief gegeneinander platzierten Regalreihen zwingen den Betrachter zum Perspektivenwechsel: Er muss seine Position und damit seine Sichtweise auf das Kunstwerk ändern, je nachdem welches Buch er zur Hand nehmen will. Die Künstler wollen den Besucher damit zur Selbstreflexion anregen: Er selbst soll sich als Verschobener wahrnehmen.

Die Installation strahlt eine unfertige, provisorische Atmosphäre aus - als wäre der Besitzer der Bücher beim Einräumen oder Ausräumen der Regale unterbrochen worden. Die Assoziation zum plötzlichen Aufbruch, zur erzwungenen Emigration liegt nahe. Insgesamt bleibt der Zugang zum Kunstwerk jedoch ein intellektueller, mittelbarer - einer für Büchermenschen.

Täglich 0-24 Uhr, Betreten der Bibliothek jeden Dienstag von 11-12 Uhr möglich.

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