01.03.2002 19:19:00 MEZ
Der Held ist die Wahrheit
Realismus auf Russisch, Abteilung 19. Jahrhundert, das heißt rührselige Armenszenen wie auch beinharte Sozialkritik. Die Bandbreite dieser Malerei offeriert die Kunsthalle Krems

Krems - Göttermähler in der Walhalla waren ihre Sache nicht, obwohl sie an der Petersburger Akademie zu diesem Diplomarbeit-Malthema vergattert wurden. Aus Protest gab es den "Aufstand der Vierzehn", der später die "Genossenschaft der Wandermaler" (Peredwishniki) begründete, welche ihre Werke in alle Ecken des russischen Reiches schickte. Unter den 14 "Stilrebellen", denen die Wahrheit als Schönheit galt, war auch Iwan Kramskoi, der Lehrer Ilja Repins, des wohl bedeutendsten russischen Malers des 19. Jahrhunderts.

Er und seine Zeitgenossen stehen nun im Zentrum der Schau Ilja Repin und die Realisten in der Kunsthalle Krems. Dem Zeitgeist wolle er sich nicht beugen, das Geschenk Gottes nicht mit Omeletts verunstalten - eine Anspielung auf den französischen Impressionismus -, sondern "Wahrheit" schildern. Und zwar nicht naturalistisch-abbildend, sondern sie in ihrem Kern erfassend, tendenziös. Die Themen der oft mit utopistisch-nihilistischen Gruppen sympathisierenden Maler umfassen psychologisierende Porträts, Genreszenen und Hommagen an die russische Landschaft. In Repins Worten "die Seele des Menschen, das Drama des Lebens, die Eindrücke der Natur, ihr Leben und ihr Sinn, der Atem der Geschichte".

In den Mittelpunkt rücken Alltagsszenen, Arme, Revoluzzer, sozial Benachteiligte. Die Kreuzprozession Repins etwa versucht einen Querschnitt durch die russische Gesellschaft zu machen, die im Gegensatz zu glatten Gemälden skizzenhaft lebendig bleibt.

Viele Werke bilden einen engen Konnex zur damaligen "revolutionären" Literatur eines Dostojewski, Puschkin oder Gogol. "Der Held meiner Erzählungen", sagte der adelige Gutsbesitzer und Dichter Leo Tolstoi, "ist die Wahrheit."

Realismus auf Russisch hat viele Gesichter, oftmals rührselig-sentimentale, auch wenn die Gefräßigkeit der Popen angeprangert oder Kirchtag gefeiert wird oder sich häusliche Armenszenen um ein Stück Brot drehen - eine gefühlsbetonte Welt voller Intuition und Melancholie. Beim Mäherbild Erntezeit von Grigori Mjassojedow erkennt man am deutlichsten die Wurzeln für die spätere russische Kunst, vor allem den sozialistischen Realismus und die Kunst der Offiziellen. Es ist kein Genrebild mehr, sondern ein Arbeitsbild.

Populäre Bilder

Das in Krems Ausgestellte, zum Großteil aus dem Russischen Museum in St. Peters- burg, gehört nicht unbedingt zu den Genres, die heute russische Neureiche aus dem Ausland wieder kaufen. Da erwirbt man lieber gefälligere Bilder, die auch Repin in seinen späten Jahren malte, dem Impressionismus nahestehendere. Aber das Ende des Kommunismus und damit eine Art Rückbesinnung auf das 19. Jahrhundert macht diese Bilder, die manchmal aktuell, manchmal biedermeierlich wirken, wieder populärer.

Ein Bild, das in allen russischen Schulbüchern zu finden ist, ein Nationalheiligtum, konnte die Reise nach Krems noch nicht antreten, es kommt erst am ersten Mai: Repins Wolgaschlepper, bei dem er ein Monumentalgemälde "dem Leben des Volkes" widmete und damit einen für die russische Malerei neuen Heldentypus entwarf. 1873 war das Bild auf der Wiener Weltausstellung gezeigt worden.

Der Maler, der übrigens 1915 aus Protest finnischer Staatsbürger wurde, fertigte 1870 monatelang Studien zu diesen Menschensklaven an, denen er letztlich Würde verleiht. Repins Bleistiftporträts dieser Leute haben Qualitäten wie Fotos von August Sander. Andererseits malte er die Wolgatreidler im Auftrag eines Großfürsten - für dessen Salon.


(DER STANDARD, Print, Sa./So., 2.3./3.3.2002)


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