Nachlese
Ruhige Arbeit an mehr
Distanzkultur
Martin Fritz im Porträt
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fdr.at
Aigen-Schlägl - Wie kommt die Kultur zum Bauern, das fragte sich schon Pierre Bourdieu auf durchaus provokante Weise in seinen Texten zur Bildung. Eine ihm posthum zugeeignete Publikation liegt in der neuen Universität zu Ulrichsberg (ja, das mit dem Jazzatelier!) neben anderen einschlägigen Werken auf. Während vorm Fenster Landmaschinen mit der Heuernte heimfahren, stehen im örtlichen Studierzimmer Vorlesungsthemen wie "Die Wirklichkeit des Hauptschülers" an.
Ein Lehrer Lämpel trägt ungerührt vom Traktorenlärm in seiner kapellengroßen Uni vor. Es hat hier alles seine Richtigkeit: Inskriptionsblätter am Eingang, Studienberatung gleich rechter Hand, vorne besagte Universitätsbibliothek, Mobiliar mit Originalinventarnummern (!) bis hin zum muffigen Flair, den abgestandene Hydrokulturpflanzen verströmen. Sogar am Ulrichsberger Ortsschild steht neuerdings "Universitätsdorf". Dass es sich bei dieser Einmannuniversität um eine Kunstinstallation von Tilmann Meyer-Faje handelt, verraten nur die derzeit überall in der Gegend des oberen Mühlviertels, von Linz bis Schwarzenberg am Böhmerwald, angebrachten neongelben Schilder des Festivals der Regionen.
Stadt - Land
Bis zum 3. Juli werden hier - erstmals unter der Leitung von Martin Fritz (DER STANDARD berichtete) - rund 25 Kunstprojekte im dezentralen Raum präsentiert. Bourdieus "Frage" also, wie denn die Kultur zum Bauern komme, negiert das Festival seit 1993 biennal. Kultur? Unkultur? Das künstlerische Großprojekt hinterfragt genau die auf Dualität gründenden Begrifflichkeiten. Denken in Gegensatzmodellen wie Land/Stadt, traditionell/modern genügt - zumal im globalen Kontext - den Istzuständen immer weniger. An deren Sichtbarmachung wird gearbeitet.
Das Festival der Regionen hat deshalb unvergleichlich "Sinn", weil es auf für Kunst-und Kulturveranstalter unüblich unprätentiöse Weise aus den Schauplätzen Orten, Gemeinden und schließlich der ganzen Region heraus arbeitet - anstelle Vorgefertigtes missionarisch hineinzutragen.
Viele Projekte sind an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst angesiedelt. In einer überaus lohnenswerten Arbeit wurde ein Dorf als mehr oder weniger autonomes Lebensfeld untersucht: Hab und Gut - Sabine Dreher und Christian Muhr alias liquidfrontiers haben am Beispiel des grenznahen Böhmerwalddorfes Schwarzenberg herausgefunden, was ein Dorf alles haben und können kann.
In monatelanger Recherchearbeit haben liquidfrontiers eine penible mikrosoziologische Studie erstellt, die Kompetenzen der Bewohner auf grafisch einmalige Art offen legt, vergleichbar mit den Installationen des Paris Bureau d'Etudes.
Hier wird gezeigt, was ein Ort kann und was er in den zur Verfügung gestellten Rahmenbedingungen tatsächlichen macht: aufgeschlüsselt in zwanzig Kapiteln wie Berufe (wie Baggerfahrer) und Zweitberufe (wie Besamer), Hobbys (wie Gedichte schreiben) und Fertigkeiten (wie Schweine schlachten) oder Sorgen (Arbeit), vielleicht am besten durchdrungen vom Festivalthema "Geordnete Verhältnisse". Wie in einem Themenpark, in dem sich völlig verschiedene Projekte aneinander spiegeln, kann auch hier ein Projekt zur Überprüfung des nächsten dienen. Ein ausgeklügeltes Busshuttle-Netz, in dem sich das Publikum im Halbstundentakt durch die Region bewegen kann, wird dabei zu einem weiteren "Ort" der Kommunikation.
Ein Kontrapunkt zu Hab und Gut ist das vom Frankfurter Künstlerkollektiv finger erbaute Testfeld Mühlviertel 2010. Hier, in der zwischen Aigen-Schlägl und Ulrichsberg gelegenen Ortschaft Schindlau, übersetzt ein kitschiges Holzhüttenensemble mit einem als Themenbaum getarnten Maibaum Ergebnisse der Regionalentwicklungsforschung (Kaufkraftverschiebung, Verwaldung etc.) in Heimatmuseenoptik. Ausgangspunkt sind dabei auch stets Menschen vor Ort und ihr Wissen.
Genius Loci
Neben dem Bild, eine Installation im öffentlichen Raum (Ulrichsberg)
von Josh Müller und Pascal Petignat, funktioniert - den Genius Loci eines
verlassenen Hotelrohbaus fotografisch umzingelnd - ebenso schön als Teil des
Festivalganzen. Schön auch die "Haltestelle" Leben am Hof von Iris
Andraschek und Hubert Lobnig, in der zerbröckelnde Strukturen
landwirtschaftlicher Betriebsführung u. a. als Film sowie als architektonische
Amputation (ein Haus als bloße Fassade) in die Landschaft gestellt wurden.
Versäumen sollte man nicht den Festivalkurzfilm Am Hauptplatz, im Wald
von Sofie Thorsen sowie das Querfeldeinfußballspiel Land Art Cross
Soccer von rhizom am 3. Juli.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21.6.2005)