„Meine Idee ist, die Alpen aufzulösen“
Anselm Kiefer. Ein Künstler als Alchemist: Anselm Kiefer sprach mit den SN über seinen neuen Zyklus „Alkahest“.
Gudrun Weinzierl Salzburg (SN). Nichts bleibt wie es ist, alles verändert sich, löst sich, bildet sich neu: So lässt sich Anselm Kiefers Idee und Wahrnehmung der Welt zusammenfassen. Seine Bezüge zu diesem Wandel findet der Künstler in den Schriften des Alten Testaments, in der nordischen Mythologie, in Dichtung und Philosophie. In seinem Schaffen will Kiefer die Transformation der Welt und ihre Bestandteile sichtbar machen. Oft thematisierte er auf seinen Leinwänden das Feuer und die Asche, auch die Erde und das Vermodern, das Gestein, den Sand, den Staub.
Wasser und Stein, deren Zusammenwirken in der Natur wie in den Prozessen der Alchemie – als einer „ersten Form der Chemie“ – sind das Leitmotiv des neuen Zyklus „Alkahest“, der derzeit in der Salzburger Galerie Ropac zu sehen ist. Der Zyklus ist benannt nach dem hypothetischen Lösungsmittel der Alchemie, das jeden Stoff, einschließlich Gold, aufzulösen vermag.
„Die Verdünnung ist für mich etwas sehr Wichtiges“, sagt Anselm Kiefer im SN-Gespräch. „Ich lege die Bilder oft auf den Boden und schütte Wasser über sie, oder ich schütte Wasser darüber, in dem Farbe aufgelöst ist. Ich gebe die Bilder einer Verdünnung preis.“
Das Wasser habe mit der Erosion zu tun. „Ganze Berge und Sedimente, die sich über Jahrmillionen angelagert haben, werden durch Wasser zum Meer getragen“, erläutert Kiefer. „Das Wasser trägt zum Kreislauf bei. Das für immer scheinende Gestein wird aufgelöst, zu Sand und Schlamm zermalmt.“
„Ich verstehe mich nicht als Maler um der Malerei willen, sondern als jemand, der mit den Mitteln der Malerei Ideen sichtbar macht“, betont der Künstler. „In den Arbeiten dieser Ausstellung haben mich Transformation und die Transmutation der Materie beschäftigt. Meine Idee zu dieser Ausstellung ist, die Alpen aufzulösen. Sie sind ein Synonym für Werden und Vergehen, ein fortdauerndes Aufschichten und Abtragen über Jahrmillionen hinweg. Die ,geologische Zeit‘ ist für den Menschen, der im Höchstfall hundert Jahre hat, nicht fassbar. Der Mensch muss beschleunigen, die Zeit verkürzen und konzentrieren, sofern er ein Ergebnis haben will. Was in der Natur schier ewig dauert, transformiert der Mensch mittels der Alchemie.“
So gesehen sind Anselm Kiefers großflächige, wandfüllende Alpen-Bilder, seine skulpturalen Schaukästen, auch die Aquarelle und übermalten Fotografien eine Interpretation der Natur- und der Kulturgeschichte. Bilder der Alpen, des Gebirges, der aus ihnen stürzenden Wasser stehen für eine Sehnsucht, für ein Aufsteigen, Hineingehen und Hinüberwechseln in etwas Heiles. Schon Moses schlug Wasser aus dem Felsen.
Der Mensch sei aber heillos konstruiert, sagt Anselm Kiefer. „Der Wunsch nach der Einsamkeit und dem Schönheitsempfinden im Gebirge kann augenblicklich vom tatsächlichen Schockerlebnis und der menschlichen Katastrophe abgelöst werden.“
Himmlisches und Irdisches, Göttliches und Menschliches, Unsterbliches und Vergängliches vollzieht sich am Berg. So wird es verständlich, dass Kiefer beispielsweise in mehreren Bildern medizinische oder Laborscheren auf den Gebirgsflanken anbringt: Hier durchtrennen die nordischen Nornen oder die griechischen Parzen den Lebensfaden.
Auch unabhängig von diesen Schicksalsgöttern sind Scheren – und andere Werkzeuge und Behelfsmittel – auf der alchemistischen Suche nach dem Stein der Weisen nötig. Nur so kann aus dem Ofen „Athanor“ (der Titel eines Werkes) endlich das Opus magnum, die Umwandlung eines Ausgangsstoffes in Gold, hervorgehen.
Die gegenläufigen Naturprozesse von Aufschichtung und Abtragung, Faltung, Erosion, Aufbrechen und Erstarrung sind dem menschlichen Maß und der Lebenszeit des Menschen entzogen. „Um den Übergang von einem Zustand, einem Stoff in einen anderen zu bewirken, hat sich der Mensch die Alchemie geschaffen, sie ist jenes chemisch-philosophische System, das Naturprozesse imitiert.“
Eine Reihe von Werken trägt Titel und den Arbeiten eingeschriebene Hinweise auf die alchemistische Terminologie: Das lateinische „purificatio“ verweist auf die Reinigung, „dissolutio“ auf die Auflösung und den Verfall, „coagulatio“ auf das Zusammenführen zu Neuem.
Auch das vom Kiefer-Haus, dem ersten Kunstwerk der Salzburg Foundation, gegenüber dem Festspielhaus bekannte Schriftzeichen „AEIOU“ kehrt in den neuen Bildern wieder. Es verweist auf die Geschichte als ständige Transformation. „Weltreiche entstehen, gehen unter, Neues formiert sich. Als die Donaumonarchie schon in ihrem Bestand gefährdet war, transformierte sich das Kaiserreich und verdichtete sich in eine andere Qualität, Österreich war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert das wichtigste Land der Literatur.“ Anselm Kiefer sieht in Auflösung und Wiederzusammenführung ein Sinnbild für Österreich.Ausstellung: Galerie Thaddaeus Ropac, Mirabellplatz: Anselm Kiefer „Alkahest“, bis 24. September.