Deutschlandfunk - 23. Juni 2004 • 15:02
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19.6.2004
Die Kunst im Zeitalter des Terrorismus
Im spanischen San Sebastian wird die Manifesta 2004 eröffnet
Von Belinda Grace Gardner
Mit Getöse und Gesang zieht ein bunter Zug am Eröffnungsabend der Manifesta über San Sebastians Hauptboulevard. Der Londoner Künstler Jeremy Deller hat die Parade auf die Beine gestellt. Trommler, Flamenco-Tänzer, Tattoo- und Fechtkünstler, alte Menschen, Kinder, Surfer, ein Blindenchor, marokkanische und rumänische Bands, eine Schwulengruppe, Obdachlose - alle schreiten beschwingt zu ihren jeweiligen Klängen. Die Teilnehmer entspringen den unterschiedlichsten Gemeinschaften und Subkulturen im städtischen Gewebe.

Ich nenne sie eine "Gesellschaftsparade", sagt Deller. Bei dieser Parade geht es nicht um Folklore oder Religion, nicht einmal um Politik. Im weiten Sinne handelt sie vom sozio-kulturellen Leben der Stadt.

Damit steht die vielstimmig lärmende, "lebende Skulptur" im krassen Gegensatz zum allwöchentlichen Schweigemarsch von Angehörigen inhaftierter ETA-Mitglieder. Ein heikles Terrain, auf das sich der britische Interaktionskünstler gezielt nicht begibt. Mit seiner einmaligen Gruppenperformance, die filmisch festgehalten ist, befindet er sich bei dieser Manifesta in guter Gesellschaft. Auffällig viele der beteiligten Künstlerinnen und Künstler wählen ephemere Ausdrucksformen. Viele Videos sind zu sehen, Modelle, Versuchsanordnungen. Bruchstückhaft angerissene Bilder und Inhalte überwiegen. Eindeutige, gar politische Stellungnahmen sind kaum zu finden. Stattdessen: Andeutungen, vorsichtig formulierte Möglichkeiten, die sogleich wieder ausgehebelt werden. Oder im nächsten Moment - wie Dellers Parade - wieder verschwunden sind. Gegenwärtig, so scheint es, eine Tendenz in der jüngeren Kunst allgemein. Das bestätigt Manifesta 5-Kurator Massimiliano Gioni. Bei vielen Arbeiten beobachtet er, dass momentan Zweifel vorherrschen. Es wimmele darin geradezu von Fragen, was nicht bedeute, dass die Arbeiten schlecht wären. Vielleicht seien sie weniger frontal, stärker hinterfragend, introvertiert und problematisierend.

Ohnehin hätten sie bewusst das "Spektakel des Politischen" in dieser Manifesta ausgeklammert, betont Kuratorin Marta Kuzma. Gerade angesichts der komplexen politischen Realität vor Ort. Diese gibt sich nicht sofort zu erkennen. Nur am Rande erfährt man etwa, dass ETA-Aktivisten von örtlichen Geschäftsleuten regelmäßig "Revolutionstaxe" abfordern. Diskrete Bodyguards umgeben diejenigen, die nicht bereit sind zu zahlen.

Derweil geht die Kunst ihre eigenen Wege. Beispielsweise im ehemaligen Kloster San Telmo in der Altstadt, Sitz eines ethnografischen Museums. Zentrales Thema an diesem atmosphärisch dichten Schauplatz ist die Dekonstruktion und Rekonstruktion individueller und kollektiver Geschichte. In ihrer Video-Arbeit "November" beleuchtet die Berliner Künstlerin Hito Steyerl die Verbindungen zwischen den Ikonen des bewaffneten Kampfs früherer Dekaden und populärkulturellen Mythen, die das Kino hervorgebracht hat. Ein Blick auf die Mechanismen der Mythosbildung:

Mein Film "November" beschäftigt sich insofern mit der Dekonstruktion, mit Systemen, als es darum geht, politische Ikonen der Gegenwart und der Vergangenheit zu untersuchen und sich zu fragen, was das eigentlich für Glaubenssysteme sind.

Die Unverbindlichkeit einer immer schon medial vermittelten Wirklichkeit, der fiktive Charakter gängiger Systeme und Konstrukte führt die junge Künstlergeneration fast schon obsessiv vor Augen. Das teilt sich bei sämtlichen Stationen der Manifesta mit. Im früheren Kloster ebenso wie in der städtischen Bibliothek. In einer ehemaligen Bootswerkstatt am hístorischen Hafen ebenso wie in dem architektonisch kühnen Veranstaltungskomplex "Kursaal" am Meeressaum, wo der Portugiese Carlos Bunga ein riesiges Papphaus aufbaute - nur um es unverzüglich zum Einsturz zu bringen. Bis hin zu einem einstigen Lagerhaus für Fisch im nahe gelegenen, deutlich ärmeren Hafengebiet von Pasaia. Dort geht beispielsweise der baskische Künstler Asier Mendizabal Fragen subjektiver und gemeinschaftlicher Identität angesichts schwindender Gewissheiten nach. Ein tastendes Manöver, das die Grenzen der lokalen Repräsentation sprengt. Aller spezifisch "baskischen" Topografien zum Trotz, die er bildlich vorführt.

Ich befasse mich, so Mendizabal, mit dem Image, das die Gemeinschaft von sich selbst projiziert - durch Dinge, die so stark wieder erkennbar sind wie etwa eine Landschaft. Oder wie sogar die physische Form einer Stadt ein Symbol der Selbst-Repräsentation werden kann. Und das ist universal.


In diesen Projektionen eines kohärenten Orts zwecks Identitätsstiftung ist das Scheitern stets enthalten. Es gibt kein Ganzes, das zeigen die versammelten Manifesta-Protagonisten, nur Fragmente von Entitäten im Fluss. Darin aber liegt eine ständige Selbst-Erfindung und Neubewertung jenseits aller territorialen Festlegungen.

In Europa, so Gioni, wird es immer schwieriger zu sagen, wo man herkommt. Ein Thema, das viele Arbeiten der Manifesta ansprechen, also die Frage, wo Heimat ist, im Sinne von Nostalgie, Sehnsucht, Zugehörigkeit. Aber 'Heimat' ist weniger ein physischer Ort mit einer Grenze oder einer Tür, sagt er. Sondern eher eine Reihe von Werten, Gefühlen und Ideen, die man im Kopf mit sich tragen kann...

In zwei Jahren ist die Manifesta in der geteilten Hauptstadt Zyperns, Nikosia, zu Gast. Eine noch offene Rechnung bei Überwindung der letzten politischen Grenzen in Europa. Auf künstlerischer Seite sind diese längst weit geöffnet.


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