13.09.2002 20:30
Endlich Fotos wie Fotos
Ein neuer
Blick auf Fotos aus der frühen Sowjetunion
Wenn es sie nicht schon gegeben hätte, für das
revolutionäre Russland hätte man die Fotografie erfinden müssen. Da gab es ein
Medium, das man verhältnismäßig leicht einsetzen und lehren konnte; eine
Bildersprache, welche den vielen Analphabeten, die die Sowjets vom Zarenreich
geerbt hatten, verständlich war; ein Instrument der Propaganda, das man nur von
den überkommenen Vorstellungen bourgeoiser Ästhetik entschlacken musste. Fotos
waren, in den Worten von Alexander Rodtschenko, "der neue, schnelle und reale
Reflektor der Welt".
Rodtschenko hatte sich in anderen künstlerischen
Sparten einen Namen gemacht. Er kannte die traditionellen Wurzeln der
"Licht-Bildnerei" in der Mal-Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Gerade deswegen
machte er sich für die neue, engagierte, Partei ergreifende (und oft deren
Ausweis mit sich herumtragende) Garde von Fotografen stark, sozusagen für die
Silbergelatine-Fraktion unter den Konstruktivisten.
Sie stellten nur
einen Teil der sowjetischen Fotokunst dar. Aus der Entfernung mag es so scheinen
(und Ausstellungen, vom Guggenheim bis zum MAK, bestärkten den Eindruck), als ob
die Zwanzigerjahre ganz im Zeichen der Oktoberrevolution gestanden wären.
Tatsächlich aber führten die Piktorialisten den Weg der Foto-Romantik fort, und
am anderen Rand des kulturellen Stroms löckten bereits Experimentierer gegen den
Stachel der klassenkämpferischen Korrektheit. In dieser Konstellation waren sie
Entwicklungen in Westeuropa nicht unähnlich, nur dass sie von Lenins Dekret,
Fotografie sei in den Dienst der Revolution zu stellen, im Zaum gehalten
wurden.
Scharmützel aber waren die Richtungskämpfe im Vergleich zum
heraufdämmernden sozialistischen Realismus, der einen Dienst an der sowjetischen
Wirklichkeit als allein selig machend verordnete. Die großen Künstler der ersten
Phase gingen in den äußere oder innere Emigration. Ihre Arbeiten waren ungeliebt
und fast vergessen.
Das Moskauer Haus der Fotografie, in den Neunzigern
eröffnet, hat viele Bilder aus den Zwanzigern und frühen Dreißigern unter seinem
Dach versammelt. Als Austausch für eine Ausstellung über Bilder aus Wien
beschickt das Haus nun das Historische Museum mit 280 Originalen - eine
Gelegenheit, die vielschichtige Entwicklung der Fotokunst konzentriert zu
verfolgen: erstaunliche Arbeiten, zu sehen in der Abenddämmerung der
Schwarzweiß-, wenn nicht gar der Analogfotografie insgesamt. (mf/ DER STANDARD;
Printausgabe, 14.09.2002)