Die vielen Gesichter der Kunst
D er ganz große Rummel ist vorüber. Die internationale Karawane des Betriebssystems Kunst ist längst weitergezogen, nach dem ebenso illustren wie hektischen Stelldichein der Kritiker, Manager, Sammler, Galeristen, Kunsthistoriker und Selbstdarsteller zur Eröffnung der 54. Kunstbiennale in Venedig ist nun der Alltag in die vielfältigen Ausstellungsorte eingezogen: kein schlechter Zeitpunkt, um die bis 27. November geöffnete Weltkunstschau der zeitgenössischen Kunst in der Lagunenstadt zu besichtigen. Unter dem Motto „ILLUMInations/ILLUMInazioni“ hat die Schweizer Kunsthistorikerin Bice Curiger einen dichten Parcours aufgebaut. An der inhaltlichen Konzeption der Schau kann Kritik geübt werden, die Relevanz nicht aller ausgestellten Einzelwerke erscheint zwingend. Sehenswert ist die Biennale aber allemal.
Eine Ausstellung im Zeichen des Lichts? Die 63-jährige Kuratorin Curiger, zuletzt lange Jahre erfolgreich im Kunsthaus Zürich tätig, spielt mit dem Titel der Biennale auf die Bedeutung des Lichts für die Kunst (und auch für die Stadt Venedig) sowie auf den Begriff der Nation an. Hat die Nationalität einen Einfluss auf die Ausformung der Kreativität? Ließe sich die internationale Kunstfamilie mit dem Wort Nation zusammenfassen? Eindeutige Antworten auf diese und ähnliche Fragen dürfen sich die Besucher der Biennale nicht erwarten. Aber Bice Curiger, die sich das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, dass das Publikum der Biennale „wirklich erleuchtet“ wird, ermuntert zum Nachdenken über Problemstellungen. Etwa auch über die Innovationskraft von Kunst, wenn sie mitten in die Ansammlung moderner Kunst Gemälde des venezianischen Malers Jacopo Robusti, genannt Tintoretto (1518–1594), platziert: Der Tabubrecher aus der Spätrenaissance, der sich gegen malerische Konventionen auflehnende Rebell findet sich plötzlich in postmoderner Zeitgenossenschaft wieder.
Das Kritikerecho auf „ILLUMInations/ILLUMInazioni“ fiel ambivalent aus. Die Palette der Meinungen reichte von einer „ausgezeichneten, richtungsweisenden Hauptausstellung“ bis zu einer „allzu kritiklosen und ängstlichen Lichtschau“. Vereinzelt herrschte auch Ratlosigkeit vor. So schrieb etwa Karlheinz Schmid in der „Kunstzeitung“: „Was also ist los mit diesen aufregend geschriebenen ,ILLUMInations‘, mit einem Biennale-Motto, das sich einzigartig gut gibt und nach vier Venedig-Tagen doch nur den schalen Geschmack von Beliebigkeit vermittelt? Was nicht kapiert? Was? Und was wollte uns Curiger sagen?“
Zurück zur Kunst, zu den Kunstwerken. Dutzende Rahmenausstellungen in den Palazzi und Kirchen von „La Serenissima“ ermöglichen Entdeckungen, die zwei Hauptsäulen der Biennale sind auch heuer wieder das Giardini-Gelände mit den Länderpavillons und das Arsenal, welches in Innen- und Außenräumen mit künstlerischen Arbeiten prall gefüllt erscheint. Vor allem im italienischen Pavillon, in dem sich bis zur Decke hinauf Malereien, Collagen, Skulpturen, Fotos türmen. Viel Kitsch, viel Kommerz, viel unsagbar vordergründige Arbeiten, die auf einer Biennale in Venedig eigentlich deplatziert wären. Was der Berlusconi-Freund Vittorio Sgarbi hier versammelt, ist eine gegen den seriösen und etablierten Kunstbetrieb gerichtete Provokation. Ist alles, was von Kuratoren ausgewählt wurde, ernst zu nehmende Kunst? Ist jeder Sonntagsmaler biennaletauglich? So gesehen bietet dieser Pavillon die Möglichkeit zur Reflexion über Rituale und Gesetzmäßigkeiten im Kunstbetrieb.
Über die vielen Gesichter der qualitätsvollen Kunst erfährt man auf der diesjährigen Biennale einiges, nicht nur von Nathaniel Mellors, der mit „Hippy Dialectics (Ourhouse)“ eine animierte Doppelkopf-Skulptur mit Sound ausstellt: futuristischer Geisterbahncharme aus der Werkstatt des 37-jährigen britischen Künstlers, der mit „Ourhouse“ eine mehrteilige, anarchistisch anmutende Video-Soap-Opera geschaffen hat.
Die über ihre Haare miteinander verwachsenen Köpfe sind ein häufig fotografierter Blickfang, ein Schicksal, das sie auch mit „Track and Field“, einer Arbeit des amerikanischen Künstlerduos Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla teilen.
Ein Panzer liegt da wie ein umgestürzter Käfer auf dem Rücken vor dem USA-Pavillon, das funktionslose Kriegsgerät hat eine neue Funktion als überdimensionales Fitnessgerät bekommen: Prominente Sportler setzen durch ihre Laufbewegungen die Panzerkette in Bewegung, der so entstehende Lärm zieht die Besucher an. Man denkt an den Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“ und wertet die Performance von Allora & Calzadilla als pazifistische Grundsatzerklärung einer bis vor Kurzem im Dauerkampf gegen „Schurkenstaaten“ verstrickten Nation. Von der großen und aufwendigen Geste zur fast schon intimen Aufforderung zur Partizipation. In einem Raum im Palazzo delle Esposizioni werden die Besucher selbst zu Künstlern. Sie können die von Norma Jeane zur Verfügung gestellten Mengen an Plastilin (rot, weiß, schwarz wie die Nationalfarben Ägyptens) mit den eigenen Fingern verarbeiten. So entsteht eine vielfältige, ständig in Veränderung befindliche Fantasielandschaft: Seltsame Püppchen und Minitiere auf dem Tisch, Schriftzüge, Symbole oder Namen an den Wänden. Wie die Bastelstube wohl Ende November aussehen wird? So einfach kann zeitgenössische Kunst auch sein. Zu einfach, zu naiv? Zu verspielt?
Spielerisch ist auch der Beitrag Tschechiens in Venedig zu werten, der 31-jährige Künstler Dominik Lang setzt sich in „The Sleeping City“ mit den Skulpturen seines Vaters Jiri und damit auch mit der Bildsprache einer anderen Generation auseinander. Was heute bisweilen seltsam antiquiert wirkt, war einst noch als „vielversprechend“ gehandelt worden. Wie sehr sich Ästhetiken in der Skulptur gewandelt haben, zeigt das „Stillleben“ von Katharina Fritsch auf dem Arsenal-Gelände. Heiligenfiguren, Ei, Totenkopf und Schlange, allesamt großformatig und in grellen Farben: Mystik und Humor im Dialog. Ein in der Jetztzeit vertrautes Gesicht der Kunst.