Kulisse für einen Citystrand ohne Sand
Museumsquartier. 3,8 Millionen Besucher jährlich, aber nur die wenigsten finden den Weg zur Kunst, für die das Areal gebaut wurde. Anmerkungen zum zehnten Geburtstag.
Jan Tabor Wien (SN). Karola Kraus baut um. Das ist mutig. Und raffiniert. Statt gleich mit zu jubilieren bei den üppigen 10-Jahr-Museumsquartier-Festen, statt konventionell mit einer Jetzt-bin-ich-dran-liebe-Wienerinnen-und-Wiener-Prachtausstellung ihren Antritt als neue Direktorin des Museums moderner Kunst zu zelebrieren, lässt sie das MUMOK über den Sommer schließen und bauliche Veränderung durchführen. Karola Kraus jammert nicht über die böse Museumsquartier-Verwaltung, sie beginnt sofort mit dem, was bereits bei der Eröffnung vor zehn Jahren dringend erforderlich gewesen wäre: Umbau.
Was drinnen passiert, wissen wir nicht genau. Ein Kino soll eingebaut, der Museumsshop umgestaltet, das Restaurant umgestellt und der Eingang ganz anders gemacht werden. Kleine Korrekturen bloß. Man würde die Verbesserung kaum bemerken, heißt es. Außer dem Eingang, der soll ordentlich verändert werden. Für den erforderlichen gründlichen Umbau reiche das Geld nicht, heißt es. Dabei müsste man den Eingang radikal verlegen, auf das Platzniveau, breit, offen und einladend für das Volk unten.
Dort, vor dem missratenen mickrigen Eingang oben auf der schrecklichen Museumsstiege, steht ein Bauzaun. „Wir bauen für Sie um.“ Versteckt auf dem Bauzaun am Eingang befindet sich jenes Transparent, das zuerst an der Stirnwand höchst sichtbar angebracht war. Jetzt stimmt es. Jetzt werden mit dem „Für Sie“ tatsächlich die wenigen angeredet, die wirklich ins MUMOK gehen wollen. „Sie“, also wir, die irgendwie fremd geblieben sind im Museumsquartier, lesen es, bleiben gelassen und freuen uns über den kleinen, mutigen Akt der Karola Kraus. Und freuen uns bereits jetzt auf die Eröffnungsausstellung im Herbst 2011, mit der auch das MUMOK sein 10-Jahr-Jubiläum begehen wird. Einsam zwar, dafür in voller öffentlicher Aufmerksamkeit nach dem längst vergangenen Rummel der jetzigen Jubiläumsjubeltage.
„Sie“, die sich wohl und zu Hause fühlen im Museumsquartier, die Gäste der stets voll besetzten gastronomischen Stätten, die Spaziergänger, die durch das Areal halb verblüfft, halb gelangweilt schlendern, und vor allem „Sie“, die netten jugendlichen Freizeitreichen und Prekärwerktätigen, die an den heuer bepalmten Inseln aus den bunten und diesmal designmäßig ordentlich entworfenen „Enzi-Liegen“ herumlungern wie glücklich gerettete Schiffbrüchige einer Jugendsonderpreis-Kreuzfahrt, sie alle nehmen von den netten Umbau-Entschuldigungen der Karola Kraus keine Notiz. Die meisten, auch das kann angenommen werden, wissen nicht, was drinnen steckt in dem „dunklen Elefanten“ oder dem „hellen Elefanten“, wie das Museum Moderner Kunst und das Museum Leopold auf den lustigen MUQUA-Jubiläumsplakaten dargestellt werden. Wie sollten sie auch, bei derart dezidiert ausladender Architektur.
Kein Einblick lockt über die Schwelle der drei in der Wiener Kunstmanege behäbig auftretenden Elefanten. Die Eingänge sind durch die den Zugang abwehrenden Stiegen oder den Vorbau verbarrikadiert. Nichts, vor allem nichts Kunstwollendes drängt von innen nach außen hervor, in die immens bevölkerten Vorhöfe. Nichts, was diese enormen Menschenmassen – 3,8 Millionen Besucher jährlich – drängen würde, den Schritt über Schwellen zu wagen. Dem enormen Menschenandrang stehen die enorm bescheidenen Besucherzahlen der Museen gegenüber.
Die miserable Architektur der drei Kunsthäuser – es ist ja auch die bestens versteckte städtische Kunsthalle da – interessiert „sie“, uns, die meisten Menschen, kaum, regt uns kaum an. Aber sie stört auch nicht. Sie ist halt da. Kulisse für etwas Anderes. Für den vielleicht größten Citystrand ohne Sand auf der Welt.
Aus dem vor zehn Jahren viel beschworenen „größten Kulturareal auf der Welt“ ist ein großartiges Jugendareal geworden, vielleicht tatsächlich das größte auf der Welt, wer weiß, welche Kriterien angewandt werden. Das Museumsquartier ist etwas zwischen Jugend-Tagesherberge und kollektivem Hotel Mama – Ort der scheinbaren Freiheit und tatsächlichen Geborgenheit.
Das ist ein riesiger, vor zehn Jahren nicht vorhersehbarer Erfolg. Ein modernes Großstadtparadoxon: Das freieste und zugleich besonders effizient kontrollierte öffentliche Areal in Wien (oder auf der ganzen Welt). Gut möglich, dass das Museumsquartier der Vorreiter der bereits in Gang gesetzten Stadtzukunft ist: Die gemütlichste urbane Freiheit entsteht dort, wo die höchste Überwachung ist.
Und nun auch der freie Internetzugang dazu: Den bekommen wir tatsächlich – als Jubiläumsgeschenk. Vielen Dank!