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21.10.2006 - Kultur&Medien / Ausstellung
Gertsch im Mumok: Sehnsucht nach dem wilden Leben
VON ALMUTH SPIEGLER
Ausstellung. Mumok und Albertina zeigen das Werk des Fotorealisten Franz Gertsch.

Das monumentale Gemälde im Obergeschoß des ehemaligen Museums moderner Kunst im Palais Liechtenstein war für einige Generationen junger Wiener nicht nur der atemraubende Lichtblick jedes Sonntagsausflugs, sondern auch der verführerische, 24 Quadratmeter große Weitblick in eine hier völlig deplatziert wirkende freie, wilde Welt: Fünf langhaarige Jugendliche in Lederjacken und Schlaghosen hängen lässig nebeneinander über einer Absperrung und amüsieren sich königlich über etwas, was uns anscheinend nicht weiter anzugehen hat.

Und das ist nicht das das einzige Adelige in dieser Szenerie: "Medici" steht verkehrt herum am rotweißroten Holzbalken, der am Bild den Eingang ins Luzerner Kunstmuseum versperrt. Der berühmte Name steht hier aber für einiges mehr als zufällig für den einer Baustoff-Firma. Nämlich für Revolution. Für die Verspottung der Vergangenheit schlechthin, der bisherigen Kunst, der bisherigen repräsentativen (Lebens-)
Formen. Und mitten unter den Spöttern ein Kronprinz dieser neuen Ära voll Liebe und Halluzinationen, der Leader of the Pack, Luciano Castelli, ein androgyner Luzerner Performance-Künstler, der zwischen den Geschlechtern oszillierte, der die Verschmelzung von Leben und Kunst verkörperte.

Zumindest für Franz Gertsch, den damals, als dieses Bild 1971 entstand, Anfang 40-jährigen Schweizer Maler. In riesigen fotorealistischen Gemälden setzte er der Jugendbewegung seiner eigenen Midlife-Zeit ein Denkmal. Beobachtete die nachkommende Generation fast skeptisch, fotografierte sie rasch, um sie dann in penibler Malarbeit, Strichlein für Strichlein "festzuhalten", zu zähmen, sehnsüchtig für sich zu sezieren.

Das riesige Medici-Bild war 1971 eine Hauptattraktion der "documenta 5", damals wie heute eine Leihgabe der Ludwig-Sammlung. Der Fotorealismus wurde als die Entdeckung der Weltkunstschau gehandelt, neben Gertsch, Gerhard Richter und Sigmar Polke wurde er aber vor allem als amerikanische Bewegung wahrgenommen. Maler wie Chuck Close, Bildhauer wie John de Andrea, sie zeigten Europa, dass "naturalistische" (in diesem Fall fotorealistische) Kunst nichts mit einer wie auch immer gearteten Regimetreue zu tun haben muss. Und dass man nach dem Holocaust auch wieder Bäume "malen" kann. Der Schönheit wegen.

Der im Vorjahr 75 gewordene Gertsch gilt bis heute als wesentlicher Vertreter des Fotorealismus, im Spätwerk gar als Hyperrealist. Er perfektioniert die abgebildete Realität also derart, dass sie wiederum künstlich wird, führt sie so vom Individuellen ausgehend auf eine allgemein gültige Formel, auf das "Wesenhafte" zurück. Wie etwa ein bestimmtes Stück Wiese derart überhöht zu einer fast schon wieder abstrakten Abhandlung über das Gras an sich wird.

Zu sehen in der Albertina, wo in der unterirdischen Halle Gertschs Werk von 1986 bis heute ausgestellt ist. Eine Zeit, geprägt von der fast zehnjährigen, radikalen Abwendung des Künstlers von der Malerei, hin zum monumentalen, monochromen Holzschnitt. Gemeinsam mit dem Museum moderner Kunst, wo die für den Schweizer typische grelle fotorealistische Periode gezeigt wird, kann in Wien derart das gesamte OEuvre Gertschs überblickt werden. Was durchaus glücklich macht. Es sind die ikonenhaften Höhepunkte und die Brüche, die hier faszinieren, sowie die konsequente Weiterentwicklung des fotorealistischen Stils, der vor einigen Jahren noch als ausweglose Sackgasse empfunden wurde.

Erst einmal das frühe Frühwerk, Gertsch vor Gertsch sozusagen: die kleinen Bildchen, in denen der junge Künstler in neoromantischem Sentiment zerfließt, sich dann in magischem Realismus und ein bisschen Pop-Art (Rolling-Stones-Cut-Outs) übt. Trotzdem ist klar erkennbar, woher die während einer Italienreise erblühte Liebe zum naturalistischen Detail stammt, von der Renaissance nämlich, womit wir wieder bei den Medici wären.

Doch dazwischen steht ein Berg. Der Monte Lema im Tessin. Auf dessen Gipfel soll Gertsch, so will es sein Künstlermythos, 1969 plötzlich die Erleuchtung erlangt haben. Er ließ seine bisherige Kunst zurück und stürzte sich auf das, was da ist, die Realität. "Es geht nicht mehr um mich", schrieb er damals. "Ich bin nur mehr das Werkzeug." Aber was für eines!

Mit dem Diaprojektor vergrößerte Gertsch vorwiegend eigene Schnappschüsse ins Megaformat, malte sie ab. Erst Familienmitglieder, dann seine jungen Künstler-Hippie-Freunde. Und in seiner ersten Serie eine unvergleichliche Patti Smith, wie er sie 1977 während eines Auftritts in einer Kölner Galerie fotografiert und mit dem Blitzlicht derart genervt hatte, dass sie ihr Rimbaud-Gedichtblatt zerknüllte und es nach ihm warf. Fünf Momente, ein Abend. Er malte zwei Jahre lang an ihm.

Gertsch 1951-1984: Mumok, bis 11. 2.

Gertsch 1986-2006: Albertina, bis 7. 1.

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