Salzburger Nachrichten am 16. September 2002 - Bereich: kultur
Gegen einseitigen Blick

Über die zu Ende gegangene documenta in Kassel waren die Kritiker unterschiedlicher Meinung. Das Publikum dagegen beurteilte sie überwiegend positiv.

MICHAEL EVERS

Nach 100 Tagen ist die documenta 11 in Kassel am Sonntag mit einem Besucherrekord von 650.000 Gästen zu Ende gegangen. Auf der vorangegangenen documenta vor fünf Jahren waren 631.000 Besucher gezählt worden. Trotz des Rekordansturms stieß die Ausstellung bei den Kritikern auf geteiltes Echo. Auf der mit gesellschaftskritischem Anspruch konzipierten documenta sei die Kunst in den Hintergrund getreten. Außerdem habe die politisch allzu korrekte Schau zu wenig Biss gehabt.

Die documenta hatte ihren Blick erstmals über den Westen hinaus verstärkt auf die Kunst anderer Erdteile gerichtet. Thema waren unter anderem die Folgen des Kolonianismus in Dritte-Welt-Ländern, aus denen deutlich mehr Künstler als sonst vertreten waren.

Mit dem aus Nigeria stammenden Amerikaner Okwui Enwezor hatte die Kunstschau erstmals einen nichteuropäischen Kurator erhalten, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, die documenta von ihrem überwiegend westlichen Blick zu befreien. Dafür, dass ihm das auch gelang, erntete Enwezor Lob. Mit dem Anprangern von Missständen in der Welt lenkte er auch das Interesse von Organisationen wie Misereor und Amnesty International auf die Kunstschau.

Ein Ziel der documenta sei es gewesen, gegen einen einseitigen Blick auf die Geschichte vorzugehen, sagte Enwezor am Sonntag. Einem Teil der Kunstkritiker warf er vor, von einer einheitlichen Geschichtsschreibung auszugehen, bei der bestimmte Teile der Vergangenheit ausgeblendet würden. 70 Prozent der Welt bestünden aus Menschen, die in der öffentlichen Wahrnehmung nicht existierten. Auch kritisierte Enwezor die Charakterisierung seiner Person als "Nicht-Europäer". "Ich bin kein Nicht-Afrikaner und kein nichtwei-ßer Mensch", sagte er.

Die klassischen Genres im Hintergrund

Dominant vertreten waren in Kassel Fotografie, Film und Videokunst, mit denen der Zustand in von der documenta bislang vernachlässigten Ländern der Welt dokumentiert wurde. Die klassischeren Genres Malerei und Zeichnung traten in den Hintergrund. Insgesamt waren 450 Kunstwerke von 118 Künstlern aller Kontinente zu sehen. Erstmals gab es zur Vorbereitung der Kasseler Ausstellung vier Diskussions-Plattformen mit Wissenschaftern und Künstlern in verschiedenen Regionen der Welt.

Bemängelt wurde von Kunstexperten, dass sich die kritische Schau überwiegend einer geschlossenen Gesellschaft präsentierte. Im Unterschied zu früheren Ausstellungen wurden wenige Kunstwerke im Außenbereich gezeigt. Trotz ihres kritischen Anspruchs ging diese documenta ohne Skandale, aber auch ohne künstlerisch markante Höhepunkte über die Bühne.

Die Besucher bewerteten die Ausstellung, wie eine Studie zeigt, positiv. Über zwei Drittel der Befragten gaben der documenta 11 die Note "gut" oder "sehr gut". Mehr als 28 Prozent waren Ausländer.