Aufbruch im Knusperhaus
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Ginge es nach dem Wiener Kabarettisten Thomas Maurer, gäbe es nicht
ein, sondern mehrere Biedermeier. Das letzte hat eben erst begonnen. In
seinem neuen Programm „Menschenfreund“, dessen Titel sich auf das Stück
„Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ des Vormärz-Dichters Ferdinand
Raimund bezieht, macht sich Maurer über Rückzugstendenzen im
linksliberalen Milieu lustig. War man zu Beginn des 19. Jahrhunderts
vor der Dampfwalze der Industrialisierung in den lauschigen Innenhof
geflüchtet, so erwecke heute die ökonomische Globalisierung
vergleichbare Sehnsüchte nach dem trauten Heim. Das Neobiedermeier
resultiere, so der Kabarettist, aus einer „Spittelbergisierung des
alternativen Lagers“.
Das Spittelberg-Grätzl in dem von einem grünen Bezirksvorsteher
regierten siebten Bezirk steht für die Anfänge der aktivistischen
Alternativbewegung in Wien. Anfang der Siebzigerjahre entstand dort
eine der ersten Bürgerinitiativen: Unter dem Motto „Rettet den
Spittelberg!“ kämpfte eine Gruppe von Architekten, Künstlern und
Anrainern für die Erhaltung der abbruchreifen Barock- und
Biedermeierhäuser. 1975 wurde in dem vom Verfall bedrohten Geburtshaus
des Porträtmalers Friedrich von Amerling (1803–1887) ein
selbstverwaltetes Kulturzentrum errichtet. Politischer Aufbruch im
Knusperhäuschen? Die betuliche Widerständigkeit der Ökos provozierte
kabarettistische Reflexe: 1985 komponierte Lukas Resetarits das
Neobiedermeier-Lied. Abgekoppelt von seinem historischen Bezug auf die
Zeit nach dem Wiener Kongress 1815, steht bei Resetarits der Begriff
für eine opportunistische, unpolitische Haltung, das spießige Gegenteil
von Coolness. Aber war das Biedermeier selbst überhaupt so bieder wie
sein Ruf?
„Der Mensch braucht halt solche Schubladen“, sagt Hans Ottomeyer,
Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin. „Auch mit dem
Begriff Gotik haben wir keine Probleme, obwohl wir wissen, dass er
nichts mit den Goten zu tun hat.“ Der Kunsthistoriker steht in der
Albertina-Ausstellung „Biedermeier“ und streicht über sein liebstes
Objekt, einen Schubladenschrank aus der Zeit um 1810. Das Möbel wurde
vom Münchner Hofschreiner Daniel für eine Wittelsbacher Prinzessin
angefertigt. „Sehen Sie!“, erklärt Ottomeyer und deutet auf den
millimeterbreiten Spalt zwischen Schublade und Rahmen. „Der Tischler
wollte die Schattenfuge nicht hinnehmen und zog deshalb einen schwarzen
Ebenholzfaden ein.“
Das Möbelstück ist für seine Zeit so modern, weil durch das
durchgängige Furnierblatt eine einheitliche Oberfläche entsteht; das
einzige Ornament ist die natürliche Zeichnung des Kirschholzes, deren
Fehlstellen der Tischler mit dem Pinsel nachzeichnete. Keine
Metallbeschläge beeinträchtigen die warme Ausstrahlung des Materials,
das wie ein leichter Vorhang über dem Möbelkorpus liegt. „Die Erfindung
der Einfachheit“ lautet der Untertitel der Albertina-Ausstellung, die
weiter ans Berliner Historische Museum wandern wird. Sie möchte das
Design und die Kunst der Zeit um 1815 der Definitionsmacht der
Stilmöbelerzeuger und Antiquitätenhändler mit Einstecktuch entreißen.
Das wirkt aufs Erste so, als wollte man das Kölnischwasser 4711 zu
einem Parfüm der Chanel-Liga nobilitieren.
Ottomeyer tritt in der Sendung „Kunst und Krempel“ des Bayrischen
Rundfunks als Möbelexperte auf. Der Laie staunt, was so ein Kenner
alles an einem einfachen Schrank abzulesen vermag. Der reduzierte
Einsatz von Dekor ersetzt die barocke Ornamentik; auch das zeitgleiche,
napoleonische Empire ist opulenter. In der einfachen Gestaltung kommt
eine aufgeklärte Haltung zum Ausdruck, die dem Praktischen eine
ästhetische Qualität zubilligt. Wo so viel geistreiches Kennertum am
Werk ist, kann der Geschmackskaiser Johann Wolfgang von Goethe nicht
weit sein. Und tatsächlich stehen gleich neben Ottomeyers
Lieblingsexponat einige Stühle, auf denen der in Weimar lebende
Schriftsteller zu sitzen pflegte – und zwar Jahrzehnte bevor die
Satirefigur des Schulmeisters Gottlieb Biedermeier in einer Münchner
Zeitschrift zum Inbegriff harmoniesüchtiger Selbstbescheidung wurde.
Ein gefühlvoller Klassizismus würde wohl besser die Entwurfshaltung
bezeichnen, die sich aus dem Geschmackswettbewerb zwischen einer
privatisierenden Aristokratie und einem nach aristokratischer Erhöhung
strebenden Bürgertum heraus entwickelte.
Vor dreißig Jahren begann Ottomeyer damit, die Geschichte des nach 1800
entstandenen Designs umzuschreiben. Damals nahm er am Münchner
Stadtmuseum als typisch bürgerlich geltende Biedermeiermöbel unter die
Lupe und stellte fest, dass die meisten aus königlichem Besitz kamen
und außerdem zehn Jahre älter waren als bis dahin angenommen. Worin lag
der Grund für dieses Missverständnis, das die Rezeption der
Biedermeierkultur so lange in die Irre führte? Der Wiener Christian
Witt-Dörring, Kurator der Möbelsektion in der Albertina, wurde in den
Designdebatten der Zeit um 1900 fündig. Die Theoretiker der Wiener
Moderne hielten nach einer lokalen Tradition Ausschau, die einen
bürgerlich-demokratischen Gegensatz zum überladenen Zuckerbäckerstil
der Zeit bildete. Die nationale Designproduktion sollte gegenüber den
international gesinnten Gotik-, Renaissance- und Barockaufgüssen der
Gründerzeit konkurrenzfähig werden. So wurde der vermeintlich
bürgerliche Biedermeierstil zur identitätsstiftenden Epochenmarke, die
sich wie eine Folie über die Vergangenheit legte.
So gesehen war der Weg in die Wiener Moderne also auch eine Rückkehr in
die Welt der Großeltern, in die Adolf Loos und Otto Wagner das
Wunschbild des deutschen, durch die Arbeitsteilung der
Industriegesellschaft noch nicht entfremdeten Handwerkes projizierten.
Die Einfachheit als ästhetische Qualität des Biedermeier wurde also
schon vor hundert Jahren entdeckt; zugleich entstand aber auch der
irreführende Mythos vom wesenhaft bürgerlichen Biedermeier.
So ganz von ungefähr kam dieses Stereotyp freilich nicht. Kaiser Franz
I., Regent der restaurativen Metternichzeit, inszenierte sich auf einem
häufig reproduzierten Bild, das auch in der Ausstellung zu sehen ist,
als schlicht gekleideter Bürger, auf dessen Schreibtisch eine Uhr
tickte; täglich zehn Stunden saß er im Büro, nicht mehr als Mittelpunkt
eines prächtigen Hofstaates, sondern als einsam und hart arbeitender
Beamter. Das von ihm persönlich entworfene Fenster über dem
Schweizertor in der Hofburg, wo heute das Bundesdenkmalamt residiert,
war biedermeierlich im modernen Sinn von 1900. Die Glasscheiben des
englischen Schiebefensters sind außergewöhnlich groß und kosteten ein
Vermögen. Was einfach ausschaut, ist in Wahrheit eine Mischung aus
luxuriöser Raffinesse und aufwendig inszenierter Schlichtheit: Der
erzreaktionäre Vertreter des Gottesgnadentums lebte das tugendhafte
Leben eines Bürgers vor, der auch seinen Hang zur Sentimentalität nicht
verbarg. Neben dem Fenster stand ein Vogelkäfig, und nach dem Büro
ging’s hinaus in den Garten zum Unkrautjäten. Das bürgerliche Bild des
Biedermeier war Teil neo-absolutistischer Propaganda.
Auch Christian Witt-Dörring hat ein Lieblingsobjekt in der Ausstellung,
einen Stummen Diener, der um 1822 für das Palais Erzherzog Karls, die
heutige Albertina, geschaffen wurde. Der Möbelfabrikant Joseph
Danhauser richtete dem Sohn des Albertina-Gründers das Haus neu ein.
„Einfacher geht es nicht“, verweist Witt-Dörring auf die von
Seitenstützen gehaltenen, von oben nach unten größer werdenden
Abstellflächen, auf denen Tassen und Gläser standen. Denkt man sich die
teuren Goldbronzebeschläge weg, wird aus dem öffentlich-repräsentativen
Empiremöbel das schlichte Stück eines privaten Innenraums. Erst später
werden diese Möbel Vitrinen heißen und dem bis heute andauernden
Nippeszeitalter, der Terrorherrschaft der Porzellanfigurinen und
Swarovsky-Tierparks Unterschlupf bieten.
Im Wirbel des auseinanderfallenden absolutistischen
Repräsentationssystems knüpfen die Dinge neue, zufällige Beziehungen
zueinander: Im privaten Wohnraum reihen sich praktische Gegenstände wie
der Spucknapf oder die Teekanne an das Souvenir vom Ausflug ins
Gebirge; die botanische Zeichnung wird als Dekor auf Porzellantellern
reproduziert. Zum ersten Mal werden solche Innenräume überhaupt der
Aufzeichnung für wert befunden und auf Aquarellen festgehalten (die
Gestalter von Ikeakatalogen greifen heute auf ähnliche Sujets zurück).
Mit der im Nachbild der Epoche beschworenen bescheidenen bürgerlichen
Häuslichkeit hat das nichts zu tun; vielmehr wurde hier ein
Demonstrationsraum geschaffen, der sich an die Distinktionskompetenz
eines mit den neuesten Angeboten der Einrichtungshäuser und
Zeitschriften vertrauten Publikums richtete. Überzüge schützen die
Inszenierung vor Gebrauchsspuren. Die Autobahn zur Hölle der für
Verwandtenbesuche gepflegten Wohnzimmer war damit planiert. Auch der
Stilkrieg zwischen der Ligne-Roset-Aristokratie und dem kika-Plebs hat
hier seine Vorgeschichte.
In den beginnenden Formen des privaten Sammelns, das neue Möbelformen
hervorbrachte, deutet sich ein weiterer sentimentaler Grundzug der Zeit
an. Ähnlich wie die Natur in dem mit Schellack polierten Furnier
eingeschweißt und die edlen Wilden aus dem Salzkammergut im Aquarell
konserviert wurden, überlebte das gemütliche Wien lediglich als
Abstraktion der realen Stadt. Die mittelalterliche Stadt im Zentrum
wurde planiert, an der Stelle zierlicher Altwienerhäuser zogen
Immobilienspekulanten monumentale Wohnblocks hoch. Schon damals regte
sich Widerstand gegen die „kahlen, flachen, monotonen Dinger“, wie der
Schriftsteller Franz Gräffer formulierte. „Das Biedermeier, das später
zur beliebten Projektionsfläche kollektiver Sehnsüchte wurde,
generierte also bereits zeitgenössisch seinen eigenen Mythos“, meint
Sándor Békési vom Department Stadtentwicklung und Topografie im Wien
Museum. An diesem Beispiel zeigt sich die für den genius loci typische
Dialektik zwischen Fortschritt und Nostalgie: Adolf Loos verteidigte
sein heftig kritisiertes Haus auf dem Michaelerplatz mit dem Verweis
auf ähnlich kahle Fassaden der Biedermeierzeit. Hätten die Ökos in den
Siebzigerjahren auch einen tristen Wohnblock des Biedermeierarchitekten
Joseph Kornhäusel besetzt?
Mit dem Anflug eines Schmunzelns kommt der Architekt Hermann Czech aus
der Albertina-Schau. „Das mit der Einfachheit geht sich wohl nicht ganz
aus“, kommentiert der große Kenner der Wiener Moderne und der lokalen
Holzmöbeltradition den Besuch der Ausstellung, in der er zu seiner
Überraschung von dem durch Adolf Loos propagierten moralisch
einwandfreien Biedermeier nur wenig gesehen hat. Viel zu grotesk seien
die meisten der gezeigten Formen: Stühle mit so weit auskragenden
Beinen, dass man garantiert drüberstolpern würde, und Schränke, „bei
denen man Angst hat, dass sie umfallen, wenn man eine Schublade
rauszieht“. Zufälle, Geschmacklosigkeiten, Übertreibungen, wohin man
blickt: „Das ist alles so kunterbunt wie heute.“
Czech steht diesem historischen Setting ähnlich resignativ gegenüber
wie der aktuellen Architekturentwicklung, wo hatscherte Entwürfe wie
derjenige des Donaucity-Hochhauses von Dominique Perrault oder das
geplante Hotel Jean Nouvels am Donaukanal zu Denkmälern des neuen
Bauens aufgeblasen würden. Grotesk! „Vor fünfzig Jahren musste ein
Architekt erklären: Warum mach ich das? Heute heißt es nur: Warum auch
nicht?“
„Biedermeier – Die Entdeckung der Einfachheit“: bis 15.5.2007 in der
Albertina (1., Albertinaplatz 1). Information: www.albertina.at
nur mit schriftlicher Genehmigung der Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H. gestattet.