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Aufbruch im Knusperhaus

Eine Ausstellung in der Albertina entdeckt im Biedermeier die Anfänge des modernen Funktionalismus. Ist der behagliche Eskapismus einer Epoche bloß ein Klischee? Oder geht die These vom Biedermeier als Ursprung reduktionistischen Designs zu weit?
 
Falter 06/2007 vom 7.2.2007
Ressort Kultur > Kunstgeschichte
Autor Matthias Dusini

Infobox Biedermeier in Wien

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Albertina Wien

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Ginge es nach dem Wiener Kabarettisten Thomas Maurer, gäbe es nicht ein, sondern mehrere Biedermeier. Das letzte hat eben erst begonnen. In seinem neuen Programm „Menschenfreund“, dessen Titel sich auf das Stück „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ des Vormärz-Dichters Ferdinand Raimund bezieht, macht sich Maurer über Rückzugstendenzen im linksliberalen Milieu lustig. War man zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor der Dampfwalze der Industrialisierung in den lauschigen Innenhof geflüchtet, so erwecke heute die ökonomische Globalisierung vergleichbare Sehnsüchte nach dem trauten Heim. Das Neobiedermeier resultiere, so der Kabarettist, aus einer „Spittelbergisierung des alternativen Lagers“.
Das Spittelberg-Grätzl in dem von einem grünen Bezirksvorsteher regierten siebten Bezirk steht für die Anfänge der aktivistischen Alternativbewegung in Wien. Anfang der Siebzigerjahre entstand dort eine der ersten Bürgerinitiativen: Unter dem Motto „Rettet den Spittelberg!“ kämpfte eine Gruppe von Architekten, Künstlern und Anrainern für die Erhaltung der abbruchreifen Barock- und Biedermeierhäuser. 1975 wurde in dem vom Verfall bedrohten Geburtshaus des Porträtmalers Friedrich von Amerling (1803–1887) ein selbstverwaltetes Kulturzentrum errichtet. Politischer Aufbruch im Knusperhäuschen? Die betuliche Widerständigkeit der Ökos provozierte kabarettistische Reflexe: 1985 komponierte Lukas Resetarits das Neobiedermeier-Lied. Abgekoppelt von seinem historischen Bezug auf die Zeit nach dem Wiener Kongress 1815, steht bei Resetarits der Begriff für eine opportunistische, unpolitische Haltung, das spießige Gegenteil von Coolness. Aber war das Biedermeier selbst überhaupt so bieder wie sein Ruf?
„Der Mensch braucht halt solche Schubladen“, sagt Hans Ottomeyer, Direktor des Deutschen Historischen Museums in Berlin. „Auch mit dem Begriff Gotik haben wir keine Probleme, obwohl wir wissen, dass er nichts mit den Goten zu tun hat.“ Der Kunsthistoriker steht in der Albertina-Ausstellung „Biedermeier“ und streicht über sein liebstes Objekt, einen Schubladenschrank aus der Zeit um 1810. Das Möbel wurde vom Münchner Hofschreiner Daniel für eine Wittelsbacher Prinzessin angefertigt. „Sehen Sie!“, erklärt Ottomeyer und deutet auf den millimeterbreiten Spalt zwischen Schublade und Rahmen. „Der Tischler wollte die Schattenfuge nicht hinnehmen und zog deshalb einen schwarzen Ebenholzfaden ein.“
Das Möbelstück ist für seine Zeit so modern, weil durch das durchgängige Furnierblatt eine einheitliche Oberfläche entsteht; das einzige Ornament ist die natürliche Zeichnung des Kirschholzes, deren Fehlstellen der Tischler mit dem Pinsel nachzeichnete. Keine Metallbeschläge beeinträchtigen die warme Ausstrahlung des Materials, das wie ein leichter Vorhang über dem Möbelkorpus liegt. „Die Erfindung der Einfachheit“ lautet der Untertitel der Albertina-Ausstellung, die weiter ans Berliner Historische Museum wandern wird. Sie möchte das Design und die Kunst der Zeit um 1815 der Definitionsmacht der Stilmöbelerzeuger und Antiquitätenhändler mit Einstecktuch entreißen. Das wirkt aufs Erste so, als wollte man das Kölnischwasser 4711 zu einem Parfüm der Chanel-Liga nobilitieren.
Ottomeyer tritt in der Sendung „Kunst und Krempel“ des Bayrischen Rundfunks als Möbelexperte auf. Der Laie staunt, was so ein Kenner alles an einem einfachen Schrank abzulesen vermag. Der reduzierte Einsatz von Dekor ersetzt die barocke Ornamentik; auch das zeitgleiche, napoleonische Empire ist opulenter. In der einfachen Gestaltung kommt eine aufgeklärte Haltung zum Ausdruck, die dem Praktischen eine ästhetische Qualität zubilligt. Wo so viel geistreiches Kennertum am Werk ist, kann der Geschmackskaiser Johann Wolfgang von Goethe nicht weit sein. Und tatsächlich stehen gleich neben Ottomeyers Lieblingsexponat einige Stühle, auf denen der in Weimar lebende Schriftsteller zu sitzen pflegte – und zwar Jahrzehnte bevor die Satirefigur des Schulmeisters Gottlieb Biedermeier in einer Münchner Zeitschrift zum Inbegriff harmoniesüchtiger Selbstbescheidung wurde. Ein gefühlvoller Klassizismus würde wohl besser die Entwurfshaltung bezeichnen, die sich aus dem Geschmackswettbewerb zwischen einer privatisierenden Aristokratie und einem nach aristokratischer Erhöhung strebenden Bürgertum heraus entwickelte.

Vor dreißig Jahren begann Ottomeyer damit, die Geschichte des nach 1800 entstandenen Designs umzuschreiben. Damals nahm er am Münchner Stadtmuseum als typisch bürgerlich geltende Biedermeiermöbel unter die Lupe und stellte fest, dass die meisten aus königlichem Besitz kamen und außerdem zehn Jahre älter waren als bis dahin angenommen. Worin lag der Grund für dieses Missverständnis, das die Rezeption der Biedermeierkultur so lange in die Irre führte? Der Wiener Christian Witt-Dörring, Kurator der Möbelsektion in der Albertina, wurde in den Designdebatten der Zeit um 1900 fündig. Die Theoretiker der Wiener Moderne hielten nach einer lokalen Tradition Ausschau, die einen bürgerlich-demokratischen Gegensatz zum überladenen Zuckerbäckerstil der Zeit bildete. Die nationale Designproduktion sollte gegenüber den international gesinnten Gotik-, Renaissance- und Barockaufgüssen der Gründerzeit konkurrenzfähig werden. So wurde der vermeintlich bürgerliche Biedermeierstil zur identitätsstiftenden Epochenmarke, die sich wie eine Folie über die Vergangenheit legte.
So gesehen war der Weg in die Wiener Moderne also auch eine Rückkehr in die Welt der Großeltern, in die Adolf Loos und Otto Wagner das Wunschbild des deutschen, durch die Arbeitsteilung der Industriegesellschaft noch nicht entfremdeten Handwerkes projizierten. Die Einfachheit als ästhetische Qualität des Biedermeier wurde also schon vor hundert Jahren entdeckt; zugleich entstand aber auch der irreführende Mythos vom wesenhaft bürgerlichen Biedermeier.
So ganz von ungefähr kam dieses Stereotyp freilich nicht. Kaiser Franz I., Regent der restaurativen Metternichzeit, inszenierte sich auf einem häufig reproduzierten Bild, das auch in der Ausstellung zu sehen ist, als schlicht gekleideter Bürger, auf dessen Schreibtisch eine Uhr tickte; täglich zehn Stunden saß er im Büro, nicht mehr als Mittelpunkt eines prächtigen Hofstaates, sondern als einsam und hart arbeitender Beamter. Das von ihm persönlich entworfene Fenster über dem Schweizertor in der Hofburg, wo heute das Bundesdenkmalamt residiert, war biedermeierlich im modernen Sinn von 1900. Die Glasscheiben des englischen Schiebefensters sind außergewöhnlich groß und kosteten ein Vermögen. Was einfach ausschaut, ist in Wahrheit eine Mischung aus luxuriöser Raffinesse und aufwendig inszenierter Schlichtheit: Der erzreaktionäre Vertreter des Gottesgnadentums lebte das tugendhafte Leben eines Bürgers vor, der auch seinen Hang zur Sentimentalität nicht verbarg. Neben dem Fenster stand ein Vogelkäfig, und nach dem Büro ging’s hinaus in den Garten zum Unkrautjäten. Das bürgerliche Bild des Biedermeier war Teil neo-absolutistischer Propaganda.
Auch Christian Witt-Dörring hat ein Lieblingsobjekt in der Ausstellung, einen Stummen Diener, der um 1822 für das Palais Erzherzog Karls, die heutige Albertina, geschaffen wurde. Der Möbelfabrikant Joseph Danhauser richtete dem Sohn des Albertina-Gründers das Haus neu ein. „Einfacher geht es nicht“, verweist Witt-Dörring auf die von Seitenstützen gehaltenen, von oben nach unten größer werdenden Abstellflächen, auf denen Tassen und Gläser standen. Denkt man sich die teuren Goldbronzebeschläge weg, wird aus dem öffentlich-repräsentativen Empiremöbel das schlichte Stück eines privaten Innenraums. Erst später werden diese Möbel Vitrinen heißen und dem bis heute andauernden Nippeszeitalter, der Terrorherrschaft der Porzellanfigurinen und Swarovsky-Tierparks Unterschlupf bieten.
Im Wirbel des auseinanderfallenden absolutistischen Repräsentationssystems knüpfen die Dinge neue, zufällige Beziehungen zueinander: Im privaten Wohnraum reihen sich praktische Gegenstände wie der Spucknapf oder die Teekanne an das Souvenir vom Ausflug ins Gebirge; die botanische Zeichnung wird als Dekor auf Porzellantellern reproduziert. Zum ersten Mal werden solche Innenräume überhaupt der Aufzeichnung für wert befunden und auf Aquarellen festgehalten (die Gestalter von Ikeakatalogen greifen heute auf ähnliche Sujets zurück).
Mit der im Nachbild der Epoche beschworenen bescheidenen bürgerlichen Häuslichkeit hat das nichts zu tun; vielmehr wurde hier ein Demonstrationsraum geschaffen, der sich an die Distinktionskompetenz eines mit den neuesten Angeboten der Einrichtungshäuser und Zeitschriften vertrauten Publikums richtete. Überzüge schützen die Inszenierung vor Gebrauchsspuren. Die Autobahn zur Hölle der für Verwandtenbesuche gepflegten Wohnzimmer war damit planiert. Auch der Stilkrieg zwischen der Ligne-Roset-Aristokratie und dem kika-Plebs hat hier seine Vorgeschichte.
In den beginnenden Formen des privaten Sammelns, das neue Möbelformen hervorbrachte, deutet sich ein weiterer sentimentaler Grundzug der Zeit an. Ähnlich wie die Natur in dem mit Schellack polierten Furnier eingeschweißt und die edlen Wilden aus dem Salzkammergut im Aquarell konserviert wurden, überlebte das gemütliche Wien lediglich als Abstraktion der realen Stadt. Die mittelalterliche Stadt im Zentrum wurde planiert, an der Stelle zierlicher Altwienerhäuser zogen Immobilienspekulanten monumentale Wohnblocks hoch. Schon damals regte sich Widerstand gegen die „kahlen, flachen, monotonen Dinger“, wie der Schriftsteller Franz Gräffer formulierte. „Das Biedermeier, das später zur beliebten Projektionsfläche kollektiver Sehnsüchte wurde, generierte also bereits zeitgenössisch seinen eigenen Mythos“, meint Sándor Békési vom Department Stadtentwicklung und Topografie im Wien Museum. An diesem Beispiel zeigt sich die für den genius loci typische Dialektik zwischen Fortschritt und Nostalgie: Adolf Loos verteidigte sein heftig kritisiertes Haus auf dem Michaelerplatz mit dem Verweis auf ähnlich kahle Fassaden der Biedermeierzeit. Hätten die Ökos in den Siebzigerjahren auch einen tristen Wohnblock des Biedermeierarchitekten Joseph Kornhäusel besetzt?

Mit dem Anflug eines Schmunzelns kommt der Architekt Hermann Czech aus der Albertina-Schau. „Das mit der Einfachheit geht sich wohl nicht ganz aus“, kommentiert der große Kenner der Wiener Moderne und der lokalen Holzmöbeltradition den Besuch der Ausstellung, in der er zu seiner Überraschung von dem durch Adolf Loos propagierten moralisch einwandfreien Biedermeier nur wenig gesehen hat. Viel zu grotesk seien die meisten der gezeigten Formen: Stühle mit so weit auskragenden Beinen, dass man garantiert drüberstolpern würde, und Schränke, „bei denen man Angst hat, dass sie umfallen, wenn man eine Schublade rauszieht“. Zufälle, Geschmacklosigkeiten, Übertreibungen, wohin man blickt: „Das ist alles so kunterbunt wie heute.“
Czech steht diesem historischen Setting ähnlich resignativ gegenüber wie der aktuellen Architekturentwicklung, wo hatscherte Entwürfe wie derjenige des Donaucity-Hochhauses von Dominique Perrault oder das geplante Hotel Jean Nouvels am Donaukanal zu Denkmälern des neuen Bauens aufgeblasen würden. Grotesk! „Vor fünfzig Jahren musste ein Architekt erklären: Warum mach ich das? Heute heißt es nur: Warum auch nicht?“


„Biedermeier – Die Entdeckung der Einfachheit“: bis 15.5.2007 in der Albertina (1., Albertinaplatz 1). Information: www.albertina.at

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