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Kunstberichte
Die Albertina feiert den Renaissance-Star Michelangelo mit einer sensationellen Fülle von Leihgaben

Ein Strahl von anderer Schönheit

Der 
männliche Körper im Zentrum: Michelangelos "Die Bestrafung des 
Tityos" (Recto), 1532. Foto: The Royal Collection Her Majesty Queen
 Elizabeth II

Der männliche Körper im Zentrum: Michelangelos "Die Bestrafung des Tityos" (Recto), 1532. Foto: The Royal Collection Her Majesty Queen Elizabeth II

Von Brigitte Borchhardt-Birbaumer

Aufzählung Der Geniekult kam erst später auf, nahm aber bei Michelangelo seinen Ausgang: Der Universalist lehnte in 75 Jahren seiner Tätigkeit Auszeichnungen ab, wohnte armselig und signierte selten, obendrein verbrannte er einen Großteil seiner Zeichnungen, damit sie nicht in falsche Hände kamen. Als Maler, Bildhauer und Architekt tätig, war er seit seiner Jugend Vorbild für viele. In seinen Sonetten und Briefen ist aber auch viel über menschliches Leid nachzulesen.

In eine Zeit großer Umbrüche geboren (siehe Biografie rechts unten) bereitete es Michelangelos Charakter wohl einige Mühe, sich mit fürstlichen, päpstlichen und städtischen Auftraggebern zu arrangieren. Der Widerstreit zwischen Ideal und banalem Leben zeitigte ein radikales Selbstbewusstsein, das zum Vorbild für den modernen Künstler wurde.

Enorme Bandbreite, gediegen sortiert

Die Schau der Albertina hat daher den Untertitel "Zeichnungen eines Genies" gewählt. Von den wohl zirka 600 weltweit vorhandenen Zeichnungen hat sie 100 von 40 Leihgebern nach Wien holen können: Das ist eine Sensation. Es sind Blätter dabei wie die "Halbfigur der Kleopatra" oder die Studien für die "Libysche Sibylle". Solche Kunstschätze präsentieren sich hier chronologisch nach Werkgruppen sortiert, sind didaktisch aufbereitet mithilfe von Monitoren, großen Gipsen (so der "Moses" vom Grab Papst Jusius II.) und Vergleichsbeispielen von Schülern und Zeitgenossen: Die Besucher können selbst nachvollziehen, wie sich der Künstler zeichnerisch entwickelte. Das mag zwar recht gediegen anmuten, trägt aber in der seit 2008 schwelenden Echtheitsdebatte bezüglich mancher Blätter möglicherweise zur Aufklärung bei.

Wie der Katalog geht auch die Schau auf langjährige Studien von Kurator Achim Gnann zurück, der zur Neudatierung mancher Blätter gelangte. Die Zuschreibungsfrage ist bei Michelangelo deshalb schwierig, weil er nicht nur Blätter zum Teil auf beiden Seiten benützte und mehrere Phasen, aber auch Details darauf skizzierte: Zuweilen nutzte er selbst das Zeichenpapier seiner Schüler und Gehilfen, schrieb seine Sonette und diverse Bemerkungen mit auf und änderte auch die Technik und damit den Zeichenstil.

Keine Landschaften, fast nur Männer

Anfangs mehr mit Feder und sogar Über-Kreuz-Strichen am plastischen Volumen einer Gestalt interessiert, betonte er später Muskel mit Rötel, schwarzer und weißer Kreide oder Mischungen davon. Immer ist es der männliche Körper, den er nach Modell, nach anatomischer Studie und nach antiken Skulpturen zuweilen wie in Malschichten zeichnete. Es gibt keine Landschaft in seinem Werk, die wenigen weiblichen Figuren sind Idealbilder oder, wie damals üblich, nach männlichem Modell oder Skulpturen gestaltet.

Besonders interessant sind anatomische Anomalien, mit denen der Künstler den spannungsreichen Ausdruck seiner Figuren steigerte, um zur "Terribilità", dem ambivalent Schrecklich-Schönen zu gelangen. Die auch in der Malerei der Sixtinischen Kapelle nachvollziehbaren Merkmale des Manierismus – relativ kleine Extremitäten zu heroischen Körpern – irritieren in den Skizzen und führten zu Skepsis. Gnann versucht, selbst verlorene Gemälde wie die "Leda" durch überlieferte Kopien zu rekonstruieren, um Zeichnungen in die Werkgenese einzufügen und Zweifel zu mindern.

Im Jahr 2000 konnte ein Blatt in englischem Privatbesitz entdeckt werden. Auch diese "Trauernde" gehört zu Paraphrasen nach alten Meistern und zeigt, dass weder die Expertenwelt noch das Publikum mit Michelangelo zu einer abschließenden Sicht gelangen kann.

Zur Person: Michelangelo

(bbb) Michelangelo Buonarotti wurde am 6. März 1475 als Sohn eines Patriziers geboren. In Florenz lernte er Malerei bei Ghirlandaio und Bildhauerei bei Bertoldo am Hof der Medici. Zwischen ihnen und den Päpsten in Rom wechselnd, nahmen manche Aufträge Jahrzehnte in Anspruch, wie das Grabmal Papst Julius II. 1505/46 oder die Gräber der Medici in San Lorenzo 1519/26.

Erste bekannte Skulpturen sind ein Bacchus und die frühe Pieta für St. Peter in den 1490er Jahren, es folgte die zweimalige Ausmalung der Sixtinischen Kapelle 1508/12 und 1534/41, der Marmor-David 1501 für die Stadt Florenz oder die beiden späten Pietas der 1550er Jahre. Ab 1535 war Michelangelo oberster Baumeister des Vatikans für Neu-St. Peter, erlebte aber die Wölbung der Kuppel nicht mehr. Zuvor hat er in Florenz die Bibliotheca Laurenziana entworfen und war als Kriegsarchitekt tätig.

Seine 1519 und 1520 verstorbenen Konkurrenten Leonardo und Raffael überlebte er um Jahrzehnte. Er stilisierte sich zum Einzelkämpfer und kaschierte seine Homosexualität. Die schönsten Zeichnungen und Gedichte gab er an Freunde wie Tommaso de’ Cavalieri; Schüler wie Daniele da Volterra oder Sebastiano del Piombo malten nach seinen Blättern. 1563 wurde er in Florenz Vorstand der neu gegründeten Akademie.

Am 18. Februar 1564 starb er in seinem einfachen Haus in Rom mit einer gefüllten Geldtruhe unter dem Bett. Seine Familie, die durch Michelangelos Vater wirtschaftlich abstieg, stattete er allerdings großzügig mit Landgütern aus. In die Lebenszeit des Malers fällt die Entdeckung Amerikas und das Aufkommen des heliozentrischen Weltbildes, die Plünderung Roms durch Karl V. und die Gegenreformation.

Aufzählung Ausstellung

Michelangelo – Zeichnungen eines Genies
Achim Gnann (Kurator)
Albertina
bis 9. Jänner 2011



Printausgabe vom Donnerstag, 07. Oktober 2010
Online seit: Mittwoch, 06. Oktober 2010 17:56:00


Kommentare zum Artikel:

07.10.2010 22:34:31 Kein Wunder
Ich weiß ja nicht wie lange Ausstellungen sonst so vorbereitet werden, aber bei drei Jahren Vorbereitung wundert mich das nicht, dass die Albertina jetzt dieses Hammer-Material zusammen hat. Ich werds mir Mittwoch Abend zum ersten Mal ansehen.
Danke übrigens für die Einbindung dieser Biografie in den Artikel! Sehr lesenswert!
Fanny Bauer
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