Christoph Wachter und Mathias Jud stellten das Netzkunstprojekt Picidae (2007) vor, eine Open-Source-Software, die Text- in Bilddateien verwandelt und Inhalte somit für Zensurprogramme unleserlich macht. Bei den bildenden Künstlern, wie sich die Schweizer während der Präsentation ausdrücklich bezeichneten, handelt es sich um elektronischen zivilen Ungehorsam, eine gewaltfreie Form der Protestaktion, die neue Technologien mit widerständigen Strategien verbindet. Ihr Projekt haben Wachter und Jud in chinesischen Internetcafés erfolgreich getestet und konnten mit ihrem Server die dortige Internet-Polizei austricksen: Je mehr Leute die so genannten Pici-Server nutzen, desto löchriger wird das Zensurnetz, dessen Firewalls auch über den in der Galerie befindlichen Wiener Pici-Server durchbrochen werden können.
Dass es sich bei zivilem und sozialem Ungehorsam keineswegs um homogene widerständige Aktionsformen handeln kann, wird durch die vielfältigen formalen und inhaltlichen Kriterien der gezeigten Werke deutlich. Zusätzlich zur rein Netz-basierten Arbeit "Picidae" stellt die Galerie auch einen Zugang zum BorderXing Guide (2001) von Heath Bunting zur Verfügung. Bei diesem eigens für den Ausstellungsraum der IG Bildende Kunst autorisierten Klassiker des Netzaktionismus, der sowohl online auch im Realraum seinen Ausdruck findet, können BesucherInnen durch Pläne von nationalstaatlichen Grenzverläufen browsen und erhalten sogar Empfehlungen, wo man diese am besten unbemerkt überschreitet.
Landschaften für Überwachungskameras
Den schwierigen Transfer performativer und aktionistischer Kunst in den Ausstellungsraum umgeht "nicht alles tun" und bringt zusätzlich zur Fülle dokumentarischer Fotografien und Videos auch Grafiken, Malerein und sogar skulpturale Elemente. Für letzteres stehen Fran Meanas "Landschaften für Überwachungskameras" (2007) und die so genannten "Backpacks" (2006) von Nasan Tur, dessen Installation zeitgleich zur Wiener Ausstellung im Berliner Kunstraum emyt gezeigt wird. Während der aus Barcelona stammende Künstler und Aktivist Fran Meana auf Stöcken montierte Miniturlandschaften baut, die - wenn man sie vor Überwachungskameras hält - die ursprüngliche Funktion der Linsen eliminieren, sind in Berlin Rucksäcke für Aktivisten zu sehen. Diese können je nach Handlungsbedarf bei Demos ausgeliehen und unterschiedlich eingesetzt werden.
Dramaturgisch aufgeladen sind auch die Arbeiten der so genannten Surveillance Camera Players. Mit der Adaption und Aufführung bekannter Theaterstücke, Romanvorlagen und Performances vor Überwachungskameras konnte sich diese in New York gegründete Gruppe bereits Mitte der 1990er Jahre einen Namen machen. Eine Auswahl ihrer Theaterstücke, die die Mitglieder selbst im Kontext der Situationistischen Internationale verortet wissen wollen, ist mittels Rückprojektion ausschließlich nachts von Außen zu sehen und findet so ihren Weg zurück vom Galerie- in den öffentlichen Raum.
Weitere Arbeiten stammen vom österreichischen Künstler Oliver Ressler, der in Zusammenarbeit mit dem italienischen Politikwissenschafter Dario Azzellini mit einem Videoportrait über die "Disobbedienti" (2002) vertreten ist. Bei diesen - wörtlich übersetzt - "Ungehorsamen" handelt es sich um eine Bewegung, die sich beim G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001 aus den "Tute Bianche" entwickelte. Ähnlich arbeitet auch Allan Sekula. Die Dia-Dokumentation "Waiting for Tear Gas" (1999/2000) über die globalisierungskritischen Proteste in Seattle 1999 entstand nach ethnomethodologischen Arbeitsprinzipien der teilnehmenden Beobachtung: "Kein Blitz, kein Zoom, keine Gasmaske und vor allem kein Druck, das eine definitive Bild dramatischer Gewalt einzufangen" war bei der Teilnahme an den Protesten die Prämisse des US-amerikanischen Künstlers und Foto-Theoretikers.
Mit der Ausstellung "nicht alles tun" soll eine Lücke in der systematischen Auseinandersetzung mit sozialen Bewegungen an der Schnittstelle zwischen Kunst, Politik und Technologie geschlossen werden. Die Kuratoren, Jens Kastner und Bettina Spörr, berufen sich dabei auf die Schriften des US-amerikanischen Philosophen Henry David Thoreau, der den Ungehorsam bereits Mitte des 19. Jahrhunderts als "individuelle Reaktion auf strukturelles Unrecht" sah. "Der Mensch soll nicht alles tun, sondern etwas (...)" beginnt Thoreaus Textpassage, der auch der Ausstellungstitel entliehen wurde. Es ist ein Aufruf, sich nicht nur zu verweigern, sondern - zumindest innerhalb persönlicher Möglichkeiten - auch aktiv zu werden. Aktiv wurde auch das Kuratorenteam und stellte eine überblicksartige Schau zusammen, die aufgrund ihrer Vielfalt durchaus auch in einem größeren Rahmen Platz gefunden hätte. Mehr jedoch als eine Lücke zu schließen, eröffnet das Kuratorenteam einen Diskurs, dessen Verhandlung sie in Form einer Publikation fortsetzen und der zur Aufarbeitung dieses interdisziplinären Theorieschwerpunktes beiträgt.
(fair, derStandard.at, 23.06.2008)