Die Verrätselung der Welt
In ihren Anfängen war die Bilderwelt von der Kunst geprägt, heute ist es umgekehrt: Kunst und Leben sind von Fotos eingekreist. Wohin wir auch blicken, uns lachen gefakte Gesichter und perfekte Szenerien von Straßen und Stränden entgegen. Schöner wohnen, schöner leben, schöner sein ist die Devise.
Die Digitalisierung der Fotografie macht’s möglich. Sie hat auch eine neue Kunstform geschaffen: Fotodesign.
„Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut“, hat der Fotograf Henri Cartier-Bresson Qualität in seinem Metier im 20. Jahrhundert definiert. Das stimmt immer noch. Aber es ist nicht nur spannender, sondern auch schwieriger geworden, für das Heer der Fotokünstlerinnen und -künstler, die ausgezogen sind, ein Bild der Welt zu gewinnen, es zu beschreiben, zu interpretieren: das Leben in der Stadt, auf dem Land; das Leben in einem Gesicht, einer Landschaft; den Himmel, die Ränder der Erde, die kleinen Dinge und das große Geschehen.
Aus gekonntem Handwerk hat sich ein hochkarätiger Kunstmarkt entwickelt. Immer mehr Sammler sind bereit, für Fotoarbeiten sechsstellige Summen zu zahlen. Von London bis Paris: Fotogalerien sind der große Renner. Und wenn man einen Weg in die Zukunft der Fotografie ausmachen will, so zeichnen sich zwei große Trends durch die Digitalisierung ab: Die Verrätselung der Welt zum einen, ihre extreme Brutalisierung zum anderen.
Die einen Künstler bespielen ihre Bühne mit Horror, Science Fiction, mit Surrealem und Fantasy, aber auch mit kitschig-süßen Märchenwelten, digital verfremdet jedenfalls, oder sie dokumentieren die (un)heimliche Metaebene eines Standorts und den tiefenpsychologischen Aspekt durch manipulative Spiele mit der Künstlichkeit.
„Unheimliche Wirklichkeiten“ vermittelt zum Beispiel Gregory Crewdson in seinen großformatigen Landschafts- und Stadtbildern, die er mit cineastischem Aufwand inszeniert. Die Abgründe lässt der Amerikaner hinter den alltäglichen Fassaden durchschimmern.
In ihrem eisigen Hyperrealismus erzeugen diese Arbeiten Atmosphären wie in den Filmen eines David Lynch. Alles scheint glatt, überschaubar und klar. Trotzdem wecken die perfekten Hochglanzbilder im Betrachter Unbehaglichkeit, vages Grauen, das Gefühl, dass gleich etwas Schreckliches passieren könnte; dass hinter den schlichten Fassaden der spielzeug-kleinen Einfamilienhäuser oder am Ende der überdimensionierten grauen, leeren Betonstraßen eine namenlose Bedrohung lauert.
Die andere Gruppe der Fotografinnen und Fotografen bemüht die verschärfte Brutalisierung der Wirklichkeit und die Monumentalisierung der Dinge. Da betrachtet etwa Andreas Gursky seine Objekte von möglichst weit oben oder weit entfernt und vergrößert, verlängert oder vertieft das Gebäude, den Raum und die Landschaften der Arbeitswelt.
Außen- und Innenansichten von Industriebauten werden in seiner Bearbeitung monströs und erschreckend, wie etwa seine Bebilderung einer Fleischfabrik: eine riesige Halle voller Menschen, die in Reih und Glied in rosaroten Kapuzenmänteln und blauen Schürzen am Fließband werken. Die Arbeiten des aus Leipzig stammenden Deutschen erzielen seit Jahren Spitzenpreise. Ausgerechnet sein Bild „99 Cent“, die überdimensionierte Darstellung eines amerikanischen Supermarkts, gilt als teuerstes Foto der Welt.
Was aber macht die Fotografie im 21. Jahrhundert so attraktiv?
Vielleicht ist es der Umstand, dass sie in der fragmentierten, abstrakten und von Informationslawinen mit ihren Aktien-, Fonds- und anderen Zahlenlisten überrollten Wirklichkeit, in der sich die Menschen immer schlechter zurechtfinden, doch meistens die Welt zeigt und nicht die Kunst. Außerdem dringen Fotografen in Bereiche vor, die wir Normalsterbliche nie erreichen oder erfahren können – etwa in die Glamour- und Fashionszene oder in die Materie Mensch. Sei es durch Bilder von Molekülen, Bakterien oder Blutkörperchen, die, millionenfach vergrößert, geheimnisvoll Unsichtbares einsehbar machen und erst in der Bearbeitung zu Kunstwerken werden. Sei es in Form von Dokumentationen des Alltags, fremder Kulturen, unberührter Natur, monumentaler Architektur.
Freilich liegt die eigentliche Kunst längst nicht mehr im Akt des Fotografierens und im Auswählen des Sujets, sondern in den unendlichen Möglichkeiten der Manipulation am Computer. Das hat, wie Edelbert Köb, der ehemalige Direktor des Wiener Museums moderner Kunst, einräumt, „zu einer Schwemme an schlechter Kunst geführt“.
Manchmal sind die digitalen Bilder kaum noch vom Fotorealismus zu unterscheiden, zumindest nicht auf den ersten Blick, und doch handelt es sich um knifflige Arbeit auf Basis einer Unzahl von Pixeln und Zahlenreihen. „Man nennt das algorithmische Kunst,“ sagt Medien-Künstler Peter Weibel. Er ist überzeugt: „Die nächste Zukunft der Fotografie ist gesichert. Wir befinden uns auf dem Weg zurück zum Handwerk im Sinne einer Poststudiofotografie. Die Technologie öffnet immer neue Pforten und der Computer einen außergewöhnlich geschmeidigen Umgang mit Bildern. Das heißt nicht, dass dieses Fotodesign besser ist – aber es ist anders. Und die neue Generation will neue Möglichkeiten.“
Fast eineinhalb Jahrhunderte lang war man davon überzeugt, ein Foto könne die Seele fassen und die Wahrheit wiedergeben. Heute gilt es als ein Projekt der Lüge. Es zeigt eine Variante oder eine Möglichkeit von vielen, weil dank des Computers Manipulationen leicht geworden sind – mit weitreichenden Folgen. Gesichter können beliebig nach Katalogvorlagen konzipiert, auf dem Bildschirm designed und durch plastische Chirurgie realisiert werden.
Natürlich hat das fotografische Spiel mit Variationen der Künstlichkeit schon im vergangenen Jahrhundert Einzug gehalten. Cindy Sherman, 57, Amerikanerin, hat sich beispielsweise in ihren vielseitigen und vielgestaltigen Selbstporträts zwar stets überschminkt und verkleidet, aber absolut darauf bestanden, immer an sich selbst Hand anzulegen. Den Computer benutzte sie für die Gestaltung des Hintergrunds. Umgekehrt haben die Vorreiter eines exzentrischen Hyperrealismus, die Franzosen Pierre & Gilles, den Hintergrund bzw. die Kulisse im Studio arrangiert und die Personen manipuliert.
Ihre Bilder sind ein einziges Loblied auf die Freuden des Kitsches, die Verrücktheiten der Modewelt, den Glanz der Stars, auf schöne Körper, vornehmlich männlich, jung und sichtlich erregt, vor fantasievollen Kulissen drapiert. Für ihre Motive plünderte das Duo die Schatzkiste der christlichen Ikonographie, der griechischen Mythologie und der Porno- und der Popkultur. Berühmt ist ihr heiliger Sebastian, den sie, lasziv und unschuldig zugleich, vor glitzernder Großstadtkulisse oder mit Matrosenkäpppi darstellen – je nachdem. Ihre Fotos repräsentieren eine künstliche, schrill-erotische Welt der göttlichen Körper und verkörperten Götter in bunten Paradiesen, in Posen der Ekstase und der Sinnlichkeit.
Auch die Jungen der Kunstfotografie, die in den unruhigen Gewässern des 21. Jahrhunderts erwachsen wurden, sind auf digitales Design eingeschworen, wiewohl gesellschaftspolitische Themen wie Globalisierung, Lebensraum, Identität oder Erinnerung im Vordergrund stehen. Das macht eine Wanderausstellung des Elysee Lausanne mit dem Titel „reGeneration – Fotografie von morgen“ deutlich: Die häufig hybriden Techniken lösen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion mehr als jemals zuvor im Nebel auf. Und eines hat sich wirklich geändert. „Digitalfotografie ermöglicht uns nicht nur, Erinnerungen festzuhalten, sondern auch, welche zu kreieren“, sagt der Fotograf James Wayner.