"man soll das burgtheater schließen", haben Sie in den 60er Jahren
in einem Manifest gefordert, auch wollten Sie damals Schweine im
Nationaltheater halten. Hat sich Ihre Einstellung mittlerweile geändert?
Wenn man so etwas im jugendlichen Überschwang sagt, meint man das schon
ernst, aber es geht dabei auch um den Spaß. Es hat Zeiten gegeben, in
denen das Nationalheiligtum Burgtheater extrem konservativ war und das war
meinen Kollegen und mir ein Dorn im Auge – andererseits wollten wir aber
gern dort aufgeführt werden.
In den 60er und 70er Jahren wurden Sie wegen Ihrer Aktionen
angeklagt und sogar inhaftiert. Heute gastieren Sie damit im Burgtheater.
Trauern Sie manchmal den wilden Zeiten nach?
Meiner Jugend trauere ich nicht nach, dazu lebe ich viel zu gern in der
Gegenwart. Das Hier und Jetzt hat für mich einen gewissen
Erlösungscharakter. Ich bin zu jeder Zeit der, der ich bin. Vielleicht
habe ich jetzt sogar mehr Kraft zur Verfügung, oder ich weiß sie besser zu
nützen als früher. Aber was damals passiert ist, war absolut notwendig.
Vieles, was ich in den Anfangsjahren entwickelt habe, ist heute bereits
verwirklicht. Meine Arbeit ist wie ein ewiges Jugendwerk, wie ein Baum,
der wächst und immer größer wird.
Was entgegnen Sie dem Vorwurf, Sie würden immer dasselbe machen?
Meine Arbeit hat viel mit Ritual und Kult zu tun, da spielt die
Wiederholung eine sehr große Rolle.
Was werden Sie nun im Burgtheater machen?
Ich kann und will jetzt nicht den Ablauf erzählen. Man muss das
erfahren.
Burg-Direktor Klaus Bachler hat Sie für eine Aktion Ihres
Orgien-Mysterien (o. m.) Theaters eingeladen, jener ausufernden
Theaterform, mit der Sie berühmt geworden sind. Wie ist eigentlich der
Name entstanden?
Ich habe zwei gegensätzliche Begriffe vereint: Die antiken Orgien zu
Ehren des Gottes Dionysos und die christlichen Mysterienspiele des
Mittelalters. Beides sind Theaterformen, die – auch wenn sie noch so
unterschiedlich sind – einen religiösen Ursprung haben; und für mich war
Kunst immer etwas Heiliges. Kunst kann etwas Ähnliches wie Religion
vermitteln und ist, wie Nietzsche schon sagte, eine metaphysische
Tätigkeit. Dieser Gegensatz zwischen der asketischen Hinwendung zum
Jenseits im Christentum und der exzessiven Lebensbejahung der Antike hat
mich sehr gereizt.
Bei Hermann Nitsch denken die meisten reflexartig an Skandal,
geschlachtete Tiere und verschüttetes Blut. Was ist Ihr Hauptanliegen?
Gute Kunst zu machen und das zu bewirken, was jede gute Kunst bewirkt:
Intensität.
Sie verwenden bei Ihren Aktionen regelmäßig rohes Fleisch, Blut,
Innereien oder mit Blut getränkte Monatsbinden.
Ich möchte in meiner Kunst alles zeigen, auch das, was man sonst nicht
sieht, weil es im Innersten verborgen ist. Die Leute sehen das auch sehr
gerne, nur gibt’s keiner zu – und wenn’s einer zeigt, dann zeigen’s ihn
an.
Ihr Theater, schreiben Sie in einem Ihrer vielen Bücher zu diesem
Thema, sei "Ausdruck einer trunkenen Lebensbejahung", bei der es um "eine
neue Form der Existenz" gehe. Wie stellen Sie sich diese vor?
Intensiver, ohne Schiurlaub, ohne Mallorca-Urlaub. Ich möchte mich
Erlebnissen aussetzen, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist
herrlich, dass wir hier sind und leben. Aber wenn ich das Leben bejahe,
muss ich mich auch mit dem Gräuel, dem Tragischen und dem Tod
auseinandersetzen.
In Ihrer Arbeit ist der Tod stets präsent.
Ich beschäftige mich sehr mit dem Tod – ohne dass es mich beruhigt.
Nach meinem Verständnis ist der Tod aber in keiner Weise das Ende. Ähnlich
wie Nietzsche glaube auch ich an die ewige Wiederkehr.
Das o. m. Theater lebt von Riten, die an vorzivilisatorische
Gesellschaften erinnern, etwa die Opferung von Tieren oder nächtliche
Prozessionen durch die Landschaft. Aber es verwendet auch
christlich-religiöse Symbole, beispielsweise die Kreuzigung, die Hostie,
das Priestergewand. Wie passt das in unsere säkulare Welt?
Ich habe viel gelernt von der Psychoanalyse, vor allem von C. G. Jung.
Seine Theorie des kollektiven Unbewussten und die Archetypenlehre wirft
ein neues Licht auf die Mythen und die Religionen, weil er darin die
Träume der ganzen Menschheit erkennt. Insofern sind Mythos und Religion
tief in uns angelegt und haben eine ungeheure Aktualität, die man zwar
verschütten, aber auch wieder archäologisch ausgraben kann.
Sie sind dieser Archäologe?
Mit meiner Arbeit möchte ich die Geschichte des menschlichen
Bewusstseins nacherzählen. Das ist eine für die Menschheit viel
wesentlichere Geschichte als zu wissen, wann Kaiser Franz Joseph gestorben
ist.
Fehlt es unserer Gesellschaft an Spiritualität?
Das ist so ein schreckliches Modewort. Mir geht es um Intensität.
Intensität ist alles. Kraft. Geist. Abstraktion. Ich würde mir eine
Gesellschaft wünschen, die intensiver ist, heiliger, religiöser. Aber ich
habe längst aufgegeben, daran zu glauben, dass die ganze Menschheit
plötzlich erlöst wird. Das sind Entwicklungsprozesse, es wird immer welche
geben, die – Zen-buddhistisch gesprochen – erleuchtet sind und andere, die
profan denken und leben. Natürlich soll jeder missionarisch wirken und die
Freude, die er hat, anderen weitergeben.
Gerade von Seiten der Kirche wurden Sie oft angefeindet. Wie stehen
Sie zur Kirche?
Ich bin nicht gegen und nicht für die Kirche. Aber für mich ist die
sexuelle Enthaltung und Diesseitsfeindlichkeit der Kirche problematisch.
Ich möchte Ja und noch einmal Ja zum Leben sagen.
Ihr Theater kommt ohne Sprache aus.
Nach dem Krieg, in dem so viel Schreckliches passiert ist, haben wir
junge Künstler der Sprache misstraut. Anstatt mit Wörtern in die
Wirklichkeit vorzudringen, hat uns das unmittelbare Erlebnis viel mehr
interessiert. Der Schrei, der aus einer starken Emotion entsteht –sei es
durch Schmerzen, Wollust oder Angst – hat mehr mit einer existenziellen
Wirklichkeit zu tun als die Sprache. Um diese Erregungszustände, die sich
im Schrei ausdrücken, geht es in meinem Theater.
Aber Ihre Aktionen laufen in einer formal strengen Ordnung ab, es
gibt sogar Verhaltensregeln für die Zuschauer.
Meine Partituren konstruieren und provozieren aber auch sehr viele
Zufälle. Ordnung ist für mich ein fragwürdiger Begriff. Darunter versteht
doch jeder etwas anderes. Was den formalen Ablauf betrifft: Ich bin
Künstler und lege großen Wert darauf, dass ich bei dem, was ich tue, die
Form nie verliere. Auch wenn es noch so chaotisch zugeht: Ich möchte, dass
die Form triumphiert.
Hat die Kindheit Ihre Kunst geprägt? Sie sind 1938 in Wien geboren,
Ihr Vater ist als Soldat gefallen, wie erinnern Sie sich an den Krieg?
Die Nächte im Luftschutzkeller und die surrealistische Szenerie nach
den Angriffen, wenn alles gebrannt und der Himmel sich verfinstert hat,
das waren traumatische Eindrücke, die mich sehr geprägt haben.
Wie waren Ihre Anfänge als Künstler?
Für meine Mutter war es ein Kreuz, dass ich neue Kunst mache. Es war
schwierig für mich, weil ich das meiner Mutter nicht antun wollte, ich war
ja ihr einziges Kind. Aber ich habe es trotzdem getan, weil es mir
wichtiger war, als meiner Mutter eine Freude zu machen.
Hat es sich gelohnt?
Es hat sich über alles gelohnt, weil ich meine Kunst mit Freude gemacht
und sehr viel erfahren habe.
Samstag, 05. November
2005