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Kunstberichte

Hermann Nitsch spricht mit der "Wiener Zeitung" über sein berühmt-berüchtigtes Orgien-Mysterien-Theater

"Ich sage Ja und noch einmal Ja zum Leben"

Hermann Nitsch:

Hermann Nitsch: "Erlebnisse, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme." R. Strasser

Von Petra Rathmanner

Aufzählung Am 19. November inszeniert Nitsch im Burgtheater.
Aufzählung Ein "WZ"-Gespräch über Leben und Tod, über Gänsehaut und Urlaub auf Mallorca.

"Wiener Zeitung":Wer hätte das je gedacht: Hermann Nitsch macht eine seiner berüchtigten Aktionen im Burgtheater.

Hermann Nitsch: Als junger Stänkerer habe ich schon immer gesagt: Da drinnen werde ich einmal eine Aufführung haben.

"man soll das burgtheater schließen", haben Sie in den 60er Jahren in einem Manifest gefordert, auch wollten Sie damals Schweine im Nationaltheater halten. Hat sich Ihre Einstellung mittlerweile geändert?

Wenn man so etwas im jugendlichen Überschwang sagt, meint man das schon ernst, aber es geht dabei auch um den Spaß. Es hat Zeiten gegeben, in denen das Nationalheiligtum Burgtheater extrem konservativ war und das war meinen Kollegen und mir ein Dorn im Auge – andererseits wollten wir aber gern dort aufgeführt werden.

In den 60er und 70er Jahren wurden Sie wegen Ihrer Aktionen angeklagt und sogar inhaftiert. Heute gastieren Sie damit im Burgtheater. Trauern Sie manchmal den wilden Zeiten nach?

Meiner Jugend trauere ich nicht nach, dazu lebe ich viel zu gern in der Gegenwart. Das Hier und Jetzt hat für mich einen gewissen Erlösungscharakter. Ich bin zu jeder Zeit der, der ich bin. Vielleicht habe ich jetzt sogar mehr Kraft zur Verfügung, oder ich weiß sie besser zu nützen als früher. Aber was damals passiert ist, war absolut notwendig. Vieles, was ich in den Anfangsjahren entwickelt habe, ist heute bereits verwirklicht. Meine Arbeit ist wie ein ewiges Jugendwerk, wie ein Baum, der wächst und immer größer wird.

Was entgegnen Sie dem Vorwurf, Sie würden immer dasselbe machen?

Meine Arbeit hat viel mit Ritual und Kult zu tun, da spielt die Wiederholung eine sehr große Rolle.

Was werden Sie nun im Burgtheater machen?

Ich kann und will jetzt nicht den Ablauf erzählen. Man muss das erfahren.

Burg-Direktor Klaus Bachler hat Sie für eine Aktion Ihres Orgien-Mysterien (o. m.) Theaters eingeladen, jener ausufernden Theaterform, mit der Sie berühmt geworden sind. Wie ist eigentlich der Name entstanden?

Ich habe zwei gegensätzliche Begriffe vereint: Die antiken Orgien zu Ehren des Gottes Dionysos und die christlichen Mysterienspiele des Mittelalters. Beides sind Theaterformen, die – auch wenn sie noch so unterschiedlich sind – einen religiösen Ursprung haben; und für mich war Kunst immer etwas Heiliges. Kunst kann etwas Ähnliches wie Religion vermitteln und ist, wie Nietzsche schon sagte, eine metaphysische Tätigkeit. Dieser Gegensatz zwischen der asketischen Hinwendung zum Jenseits im Christentum und der exzessiven Lebensbejahung der Antike hat mich sehr gereizt.

Bei Hermann Nitsch denken die meisten reflexartig an Skandal, geschlachtete Tiere und verschüttetes Blut. Was ist Ihr Hauptanliegen?

Gute Kunst zu machen und das zu bewirken, was jede gute Kunst bewirkt: Intensität.

Sie verwenden bei Ihren Aktionen regelmäßig rohes Fleisch, Blut, Innereien oder mit Blut getränkte Monatsbinden.

Ich möchte in meiner Kunst alles zeigen, auch das, was man sonst nicht sieht, weil es im Innersten verborgen ist. Die Leute sehen das auch sehr gerne, nur gibt’s keiner zu – und wenn’s einer zeigt, dann zeigen’s ihn an.

Ihr Theater, schreiben Sie in einem Ihrer vielen Bücher zu diesem Thema, sei "Ausdruck einer trunkenen Lebensbejahung", bei der es um "eine neue Form der Existenz" gehe. Wie stellen Sie sich diese vor?

Intensiver, ohne Schiurlaub, ohne Mallorca-Urlaub. Ich möchte mich Erlebnissen aussetzen, bei denen ich eine Gänsehaut bekomme. Es ist herrlich, dass wir hier sind und leben. Aber wenn ich das Leben bejahe, muss ich mich auch mit dem Gräuel, dem Tragischen und dem Tod auseinandersetzen.

In Ihrer Arbeit ist der Tod stets präsent.

Ich beschäftige mich sehr mit dem Tod – ohne dass es mich beruhigt. Nach meinem Verständnis ist der Tod aber in keiner Weise das Ende. Ähnlich wie Nietzsche glaube auch ich an die ewige Wiederkehr.

Das o. m. Theater lebt von Riten, die an vorzivilisatorische Gesellschaften erinnern, etwa die Opferung von Tieren oder nächtliche Prozessionen durch die Landschaft. Aber es verwendet auch christlich-religiöse Symbole, beispielsweise die Kreuzigung, die Hostie, das Priestergewand. Wie passt das in unsere säkulare Welt?

Ich habe viel gelernt von der Psychoanalyse, vor allem von C. G. Jung. Seine Theorie des kollektiven Unbewussten und die Archetypenlehre wirft ein neues Licht auf die Mythen und die Religionen, weil er darin die Träume der ganzen Menschheit erkennt. Insofern sind Mythos und Religion tief in uns angelegt und haben eine ungeheure Aktualität, die man zwar verschütten, aber auch wieder archäologisch ausgraben kann.

Sie sind dieser Archäologe?

Mit meiner Arbeit möchte ich die Geschichte des menschlichen Bewusstseins nacherzählen. Das ist eine für die Menschheit viel wesentlichere Geschichte als zu wissen, wann Kaiser Franz Joseph gestorben ist.

Fehlt es unserer Gesellschaft an Spiritualität?

Das ist so ein schreckliches Modewort. Mir geht es um Intensität. Intensität ist alles. Kraft. Geist. Abstraktion. Ich würde mir eine Gesellschaft wünschen, die intensiver ist, heiliger, religiöser. Aber ich habe längst aufgegeben, daran zu glauben, dass die ganze Menschheit plötzlich erlöst wird. Das sind Entwicklungsprozesse, es wird immer welche geben, die – Zen-buddhistisch gesprochen – erleuchtet sind und andere, die profan denken und leben. Natürlich soll jeder missionarisch wirken und die Freude, die er hat, anderen weitergeben.

Gerade von Seiten der Kirche wurden Sie oft angefeindet. Wie stehen Sie zur Kirche?

Ich bin nicht gegen und nicht für die Kirche. Aber für mich ist die sexuelle Enthaltung und Diesseitsfeindlichkeit der Kirche problematisch. Ich möchte Ja und noch einmal Ja zum Leben sagen.

Ihr Theater kommt ohne Sprache aus.

Nach dem Krieg, in dem so viel Schreckliches passiert ist, haben wir junge Künstler der Sprache misstraut. Anstatt mit Wörtern in die Wirklichkeit vorzudringen, hat uns das unmittelbare Erlebnis viel mehr interessiert. Der Schrei, der aus einer starken Emotion entsteht –sei es durch Schmerzen, Wollust oder Angst – hat mehr mit einer existenziellen Wirklichkeit zu tun als die Sprache. Um diese Erregungszustände, die sich im Schrei ausdrücken, geht es in meinem Theater.

Aber Ihre Aktionen laufen in einer formal strengen Ordnung ab, es gibt sogar Verhaltensregeln für die Zuschauer.

Meine Partituren konstruieren und provozieren aber auch sehr viele Zufälle. Ordnung ist für mich ein fragwürdiger Begriff. Darunter versteht doch jeder etwas anderes. Was den formalen Ablauf betrifft: Ich bin Künstler und lege großen Wert darauf, dass ich bei dem, was ich tue, die Form nie verliere. Auch wenn es noch so chaotisch zugeht: Ich möchte, dass die Form triumphiert.

Hat die Kindheit Ihre Kunst geprägt? Sie sind 1938 in Wien geboren, Ihr Vater ist als Soldat gefallen, wie erinnern Sie sich an den Krieg?

Die Nächte im Luftschutzkeller und die surrealistische Szenerie nach den Angriffen, wenn alles gebrannt und der Himmel sich verfinstert hat, das waren traumatische Eindrücke, die mich sehr geprägt haben.

Wie waren Ihre Anfänge als Künstler?

Für meine Mutter war es ein Kreuz, dass ich neue Kunst mache. Es war schwierig für mich, weil ich das meiner Mutter nicht antun wollte, ich war ja ihr einziges Kind. Aber ich habe es trotzdem getan, weil es mir wichtiger war, als meiner Mutter eine Freude zu machen.

Hat es sich gelohnt?

Es hat sich über alles gelohnt, weil ich meine Kunst mit Freude gemacht und sehr viel erfahren habe.

Samstag, 05. November 2005


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