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derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
14. Jänner 2008
18:34 MEZ
Bis 6. April 
Foto: Sammlung Röthlisberger
"Une fleuriste dans le Manteau de Bal" (1950): Neben dem Herrn in Uniform, eine Dame mit üppiger Haarpracht, großen Ohrgehängen und einem Kleid wie ein Ornament. Aloïse Corbaz war in ihren Kaiser verliebt.

Ungezähmte Leidenschaften
"sybille.!" – Internationale Art Brut im Museum Gugging: Schwere, gepaart mit fröhlicher Frivolität und einem süßen weißen Monster

Maria Gugging – "Sei, Kaiser Wilhelm, hier / lang’ deines Volkes Zier", hieß es bis zum Ende der Monarchie 1918 in der sechsten Strophe der deutschen Kaiserhymne. Eine Aufforderung, der der mit einigen narzisstischen Zügen und großem Selbstdarstellungseifer ausgestattete Wilhelm II. gerne nachkam. Sein Uniform-Faible brachte ihm in späteren Jahren auch einigen Spott ein: "Majestät, im Badezimmer ist ein Rohr geplatzt." – "Bringen Sie die Admiralsuniform", formulierte die Satireschrift Simplicissimus.

Aloïse Corbaz, eine in Lausanne geborene Lehrerin und Gouvernante am Hof, verspottete ihren Kaiser nicht, sie liebte ihn – allerdings auf eine allzu besessene Art. Die Folge:Man diagnostizierte Schizophrenie und wies sie 1918 in die Psychiatrie ein. Bald darauf begann sie Gedichte zu schreiben und ihre Amour Fou in bunten, mit Fettkreide gefertigten, Bildern zu erzählen: Ein wiederkehrendes Motiv sind sinnliche, sehr ornamental aufgefasste Frauen, eine davon gleicht dem Klischee eines blonden Playmate, und ihre Liebhaber in Militäruniform.

Nicht nur die Biografie von Aloïse Corbaz, sondern auch jene der anderen 26 Künstler der Ausstellung sybille.!Internationale Art Brut sind ungewöhnlich, zum Teil sehr schicksalhaft und jede auf ihre Art faszinierend. Sybille heißt auch ein Werk Louis Soutters, ein für die gesamte Art Brut charakteristisches Bild:ungezähmt, unbeschönigt und unbeeinflusst. Die Präsentation, zusammengestellt von Johann Feilacher, spiegelt auch das wider, was der Franzose Jean Dubuffet als "brut" – das im französischen eher mit "herb" als mit "roh" zu übersetzen ist – 1945 definiert und fortan gesammelt hat. Denn Dubuffet sah sich recht selbstherrlich als Herr des Begriffes, den er als Auszeichnung zuerkannte oder eben wieder absprach.

Verlorenes "Gütesiegel"

Einer von jenen, die dieses Gütesiegel wieder verlor, war Gaston Chaissac, der auf der Suche nach einem unverbrauchten künstlerischen Ausdruck über prähistorische Höhlenmalerei und Kinderzeichnungen auch die Werke von Georges Braque, Paul Klee und Pablo Picasso studierte. Nach Meinung Dubuffets stand er daher zu sehr im Einflussbereich der Kunstwelt.

In den lichten, sehr zurückhaltenden Räumen des Art Brut Centers haben die Arbeiten genügend Raum, um zu atmen und ihre mitunter bedrückenden Geschichten zu erzählen. So wie jene Arbeiten des von Gestapo-Männern misshandelten Willem van Genk oder die Tuschezeichnungen aus dem Zyklus Ich webe euch ein Leintuch von Rosemarie Koczÿ. Drei Jahre Konzentrationslager hat sie als Kleinkind erlebt. Ihre Zeichnungen offenbaren jenes traumatische "Schuldgefühl" gegenüber den Toten, das den Überlebenden des Grauens oft bleibt. Ihre ergreifenden Tuschebilder zeigen ihre zu Tode gequälten, an Krankheit und Hunger zugrunde gegangenen Mithäftlinge.

Ein traumatischer Verlust auch der Auslöser für das geradezu manisch kreative Schaffen der Britin Madge Gill, die in Trance und im Namen eines Geistes in den 1920ern nächtens Papierrollen von mehreren Metern mit in Liniennetzen versponnenen, stilisierten Frauen anfertigte.

Die Schwere, die vielen präsentierten Bildern eigen ist, setzt sybille.! aber auch die fröhliche Frivolität etwa eines Friedrich-Schröder-Sonnensterns entgegen oder das süße, weiße Monster Innocy des japanischen Künstlers Shintaro Miyake (der Standard berichtete), der 2004 gemeinsam mit den Gugginger Künstlern arbeitete. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD/Printausgabe, 15.01.2008)


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