Salzburger Nachrichten am 22. Juni 2005 - Bereich: kultur
Unterdrückt vom System

Ein SN-Gespräch mit den Niederländer Joep van Lieshout über seine jüngsten Arbeiten, über Freiheit, Rationalität und den Kreislauf des Lebens.

ANNE ISOPP Interview Das Wiener Museum für Angewandte Kunst (MAK) zeigt ab heute, Mittwoch, zwei der jüngsten Werkgruppen des Ateliers Van Lieshout (AVL): "Der Disziplinator" (2003) und "Der Technokrat" (2004/05). Die Arbeiten der holländischen Künstlergruppe, das 1995 von Joep van Lieshout gegründet wurde, sind an der Schnittstelle von Kunst, Architektur und Design anzusiedeln. Die Gründung eines Freistaates im Rotterdamer Hafen (2001), die "AVL Ville", war einer der Höhepunkte ihrer bisherigen Tätigkeit. Dem mit Flagge, Geld und Verfassung ausgerufenen Staat setzte die Stadt Rotterdam schon nach einem halben Jahr ein Ende. Die neuesten Arbeiten handeln ebenfalls von politischen Systemen.

"Der Disziplinator", der dieser Werkschau den Namen gibt, ist ein Käfig mit 24 Betten, zwei Tischen und vier Baumstämmen. 72 Menschen sollen hier in drei Schichten schlafen, essen und arbeiten. Welche Idee steckt dahinter? Van Lieshout: Die "AVL Ville", die vorangegangene Arbeit, war eine zum Thema Freiheit. Wir schufen einen Ort ohne Regeln, mit viel Raum für Kreativität. Das war ein sehr interessantes Projekt, aber es ist gescheitert. Es wurde von den Behörden nicht akzeptiert, da es nicht mit dem Gesetz konform geht. Dann habe ich diese Arbeit gemacht, als Antwort darauf.

Was hat die Stadt Rotterdam an "AVL Ville" gestört? Van Lieshout: Ich glaube, der Bierverkauf. Am Ende haben wir die Getränke einfach so weggegeben.

Braucht man nicht auch in einem Freistaat Regeln? Van Lieshout: Es gab eigentlich nur eine Regel, und die lautete, wenn es Probleme untereinander gibt, dann hat man die absolute Pflicht, diese zu lösen. Das heißt, Problem lösen oder abhauen.

Was passiert in dem Projekt "Der Disziplinator"? Van Lieshout: Es ist alles reglementiert. Die bekommen ein Mal am Tag Futter, dann sollen sie arbeiten und schlafen. Sie müssen die Baumstämme zu Sägemehl machen - sinnlose Arbeit, aber in Gefängnissen hat man das oft getan. Zum Disziplinieren der Häftlinge.

In Ihrer zweiten Arbeit "Der Technokrat" werden die Insassen zwangsgefüttert und mit Alkohol bei Laune gehalten. Wozu? Van Lieshout: Der Technokrat ist ein geschlossenes System, in dem Biogas erzeugt wird. Hier werden alle Abfälle wiederverwertet, zum Essenkochen und Alkoholmachen. Dafür braucht man die Exkremente von 1000 Menschen. Eine verrückte Idee, aber mit der Schließung von "AVL Ville" fühlte ich mich unterdrückt von dem System, den Regeln und Gesetzen. Hier wird der Mensch auf ein kleines Teil in einer riesigen Maschine reduziert. Wie in unserer Gesellschaft: Man arbeitet, bekommt Geld, etwas zu essen, ein bisschen Vergnügen, und dann arbeitet man weiter.

Ein starkes Regelwerk löst den Freiheitsgedanken von "AVL Ville" ab? Van Lieshout: Man kann sagen, diese Arbeiten hier sind beide über Rationalität. Rationalität ist etwas Wichtiges. Aber wenn man alles rationalisiert und reglementiert, dann kann es zu Exzessen kommen, zu solchen wie der Holocaust zum Beispiel. "Der Disziplinator - jüngste Arbeiten des Atelier Van Lieshout" im Museum für Angewandte Kunst in Wien bis 18. September.