Serie Kulturhauptstadt
Südliches Flair: Die Orangerie in Kassel
Kassel - Die neuen Aufgaben des Herkules
Kassel oder Die neuen Aufgaben des Herkules
Von Michael Hierholzer

05. November 2004 Wanderer, kommst du aus, sagen wir, Frankfurt am Main nach Kassel an der Fulda, kann es dir passieren, daß sie dich dort mit "Willkommen in der Provinz!" begrüßen. Aber rasch merkst du: Es mangelt ihnen nicht wirklich an Selbstbewußtsein. Sie wollen dir nur den Wind aus den Segeln nehmen. Schließlich könntest du voller Vorurteile hierhergekommen sein - Kassel, das ist die documenta alle fünf Jahre, und das war's. Oder du hättest, des Ortes unkund, einen falschen ersten Eindruck gewinnen können.

Der Fremde, der durch das nordhessische Waldmeer gereist ist, kann sich schließlich der Anmutung einer gewissen Abgelegenheit nicht entziehen. Und wenn er nach Verlassen des modernistisch-großspurigen, freilich nur selten von Menschenmassen bevölkerten ICE-Bahnhofs Wilhelmshöhe einer verbauten und verbastelten Innenstadt entgegenfährt, wird er zunächst einmal allenfalls den Reiz des Reizlosen und zwanglos Zusammengewürfelten verspüren. Nimmt er freilich den Weg in Richtung Bad Wilhelmshöhe, sieht schon am Anfang der Annäherung alles ganz anders aus: nach großzügiger Stadtplanung und monumentalem Gestaltungswillen nämlich; nach jener von Barock und Klassizismus geprägten Residenzstadt, die Kassel einmal war.

Schick oder scheußlich: In Kassel zeigt das Nachkriegsdeutschland, hier die Treppenstraße, sein ungeschminktes Gesicht

Die Geschichte weiter zurückliegender Jahrhunderte wirkt im kriegs- und nachkriegszerstörten Kassel manchmal mächtig, manchmal nur unter der architektonisch-städtebaulichen Oberfläche. Die Geschichte vor allem der Landgrafen von Hessen-Kassel, von Karl, Friedrich II., Wilhelm IX., die dem Fürstensitz ihren ästhetischen Willen aufdrückten mit ausufernden Parks, grandiosen Schlössern und repräsentativen Kunstwerken im höfischen Raum. Die schnurgerade Wilhelmshöher Allee, eine nach barockem Vorbild Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geschaffene Achse, verbindet das Zentrum mit dem Schloß gleichen Namens, mit dem Bergpark, mit dem Herkules. Der Augsburger Goldschmied Jacob Anthoni arbeitete zwischen 1713 und 1717 an dem kupfernen Koloß, der mehr als acht Meter mißt und sich auf eine fast fünf Meter hohe Keule stützt.

Halbgott als Idealbild

Der antike Held steht auf einem Oktogon und einer Pyramide, hoch oben über dem herrschaftlichen Landschaftsgarten mit seinen gewaltigen Wasserspielen und seiner verspielten Lustarchitektur. Der Architekt Giovanni Francesco Guerniero hat sie einst gemeinsam mit dem Landesherrn Karl geplant. Der hatte ein Faible für Italien. Der Landgraf, der 1677 die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, stellte sich mit der Riesenskulptur als hessischer Herkules dem Volk und den Nachbarreichen dar - ein Halbgott, der alle Aufgaben zu lösen vermag. Das war nichts ganz Ungewöhnliches in jener absolutistischen Epoche: Schon seit dem sechzehnten Jahrhundert hatten Europas Potentaten die Figur des farnesischen Herkules zu ihrem Idealbild erkoren. Ein paar Zeitalter später ist die mythologische Gestalt zum Inbild der Kulturhauptstadt-Bewerbung Kassels geworden. "Die neuen Aufgaben des Herkules" ist das Programm überschrieben, mit dem die Nordhessen die neun anderen deutschen Bewerber ausstechen wollen.

Skulpturen zieren die Karlsaue, eine prächtige Parkanlage vor der Orangerie

Zwölfmal mußte sich Herkules beweisen, bevor er unsterblich werden durfte. Zwölf Aufgaben hat sich Kassel aufgegeben, um die Lust der Einwohner an ihrer Stadt zu mehren und ein paar mehr von den vielen Durchreisenden, die täglich durch Kassel kommen, am Bahnhof Wilhelmshöhe zum Aussteigen zu bewegen. "Aufbruch wagen" heißt die erste Herkulestat. Wer in diesen Tagen mit Kasseler Kulturleuten spricht, merkt, daß es sich dabei nicht um eine Allerweltsfloskel handelt. Nicht in Kassel. Hier gibt es tatsächlich eine Aufbruchstimmung, hier ziehen viele an einem Strang. Sie wollen den Provinzkomplex überwinden. Der neue Intendant des Staatstheaters, Thomas Bockelmann, dessen Großes Haus wegen der Sanierung derzeit in ein großes Zirkuszelt auf dem Friedrichsplatz umgezogen ist, ebenso wie Ruth Wagner, die altgediente Leiterin der städtischen Kulturabteilung, die als guter Geist der Kulturhauptstadtbewerbung alle Fäden in der Hand hält. Sie wollen beweisen, daß Kassel mitten in Europa liegt und schon lange aus dem Zonenrandschlaf erwacht ist. Sie wollen Europas Kulturhauptstadt 2010 werden, ob sie diesen Titel letztlich erringen oder nicht. Hundertvierzig Projekte sind in Angriff genommen worden.

Keine Chance für Frankfurt

Kassel hat starke Verbündete: Der Segen der Hessischen Landesregierung ruht auf dieser Stadt, auf dieser Kulturhauptstadtbewerbung. Viel Geld fließt aus Wiesbaden in die Region. Zweihundert Millionen Euro gibt es aus der Landeskasse für Renovierung und Ausbau der Museen. Als klar wurde, daß Hessens Ministerpräsident Roland Koch sich für Kassel einsetzt, zog Frankfurt, das ebenfalls Ambitionen hatte, seine Bewerbung schleunigst zurück.

Die Friedenskirche in Kassel

In der nordhessischen Großstadt ist, kein Wunder bei so hohen Investitionen, die Zeit der Berater angebrochen. Einer von ihnen ist Dieter Bogner. Er stammt aus Wien, arbeitet für das Frankfurter Büro Albert Speer und Partner und schwärmt von Kassel, dessen "Museumslandschaft" er mitentwickelt. "Die Zeit der Mittelstädte ist da", sagt er. "Eine Stadt wie Kassel kann man in den Griff bekommen." Die vielen Museen der Stadt sollen einen einheitlichen Auftritt erhalten, Sammlungen, die bislang im verborgenen schlummerten wie die volkskundliche, ans Licht geholt werden. Am Fuß des Bergparks sind Besucherzentren geplant, das Schloßmuseum soll weiter saniert werden, auch der Herkules wird, so ist es vorgesehen, in neuem Glanz erstrahlen. Die Verbindung von Innenstadt-Museen und Wilhelmshöhe gehört zu den zentralen Vorhaben. Die Planer haben nichts und niemanden ausgelassen. Auch nicht die Urlauber am Edersee und im nordhessischen Bergland: Mit Erlebnis-Angeboten sollen sie in die Stadt gelockt werden. Irgendwann, so die Vision der Alles-mit-allem-Verbinder, wird wie selbstverständlich auf den Campingplätzen im Umland der Ruf erschallen: "Kommt, Kinder, heut fahren wir ins Museum."

Stolz und Selbstzweifel

Michael Eissenhauer, seit 2001 Direktor der Staatlichen Museen Kassel, residiert fürstlich. Der Blick schweift auf bergige Höhen, barocke Gartenbaukunst und klassizistische Fassaden. Eissenhauer ist unter anderem der Herr über Schloß Wilhelmshöhe mit seiner Antiken-Sammlung und seiner exquisiten Kollektion Alter Meister. Der Kasseler Apollon steht in zeitlos athletischer Vollkommenheit vor den Besuchern, Rembrandts intimes Familienbild des Jakobssegens gilt als Hauptwerk des Niederländers, im "Flora-Saal" zeigen großformatige Bilder gleichsam im Zoom-Verfahren reale wie ideale Ansichten der Schloß- und Gartenanlagen mit ihren Grotten, Kaskaden und Terrassen. Der Museumsdirektor spricht von den Selbstzweifeln, die in Kassel grassieren, um sogleich mit unverhohlenem Stolz auf das zu verweisen, was man hat: Kultur. Sehr viel Kultur.

Viele Stufen führen hinauf zum Herkules. Die Wasserspiele sind nur gelegentlich in Betrieb

Kassel ist der viertgrößte Museumsstandort in deutschen Landen. Und dank der documenta immerhin schon einmal Kunsthauptstadt der Welt. Auch zwischen den documenta-Jahren widmen sich Ausstellungsmacher kompromißlos der künstlerischen Moderne. So bespielt René Block das Fridericianum mit Ausstellungen, die auch in der documenta-freien Zeit vom hohen Anspruch der Kasseler Kunstvermittlung zeugen. Wer im internationalen Kunstbetrieb sein Ein- und Auskommen findet, hat allenthalben noch einen Koffer in Kassel.

Eine unprätentiöse Schönheit

Die Stadt ist keine spröde Schönheit, der sich zu nähern mit manchen Hindernissen verbunden wäre. Kassel ist eine unprätentiöse Schönheit, die ganz überrascht ist, wenn man ihr gesteht, wie attraktiv sie sei. Mit großer Unschuld trägt sie sogar ihre prächtigen Seiten zur Schau. Aber auch ihre weniger prächtigen erregen Interesse. Weil sie symptomatisch sind. Die deutsche Realität nach zwei Weltkriegen, nach der Teilung des Landes, nach Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Wiedereingliederung in die europäische Wertegemeinschaft wird in Kassel kaum weniger sichtbar als in Berlin. Die Narben liegen offen, und auch die Mittel, mit denen die Nachkriegsgesellschaft versucht hat, die Wunden zu schließen. Kunst als Kompensation. In der kompromißlosen Hinwendung zur Moderne hat die documenta Deutschland den Anschluß an die West-, an die Weltkunst gesichert.

Hoch oben vom Herkules sieht man das große Ganze Kassels unter sich

Daß sich die Kunst, die in die Stadt kommt, die Kunst, die sich in den städtischen Sammlungen findet, und die kunstlose Architektur der Nachkriegszeit zu etwas Einheitlichem fügen lassen, haben die Verantwortlichen erkannt. Nachdem die städtebaulichen fünfziger Jahre in der Wahrnehmung mittlerweile zwischen schick und scheußlich changieren, läßt sich auch Kassels berühmt-berüchtigter "Treppenstraße" etwas abgewinnen. Zumindest ist sie ein authentisches Zeugnis der Nachkriegsarchitektur, zweckmäßig und auf unbeholfene Art neckisch. Man wollte sich absetzen von der Auftrumpf- und Überwältigungsarchitektur im "Dritten Reich". Ohnehin lugt, wo immer das Häßliche überhandnimmt, in Kassel auch das den Augen Wohlgefällige hervor. Fridericianum und Friedrichsplatz, das Ottoneum, der erste feste Theaterbau Deutschlands, und die weitläufige Karlsaue mit der Orangerie bilden den Mittelpunkt der Stadt - ein einzigartiges Ensemble jenseits jeder städtischen Verdichtung.

Spitzhacken und Himmelsstürmer

Die Schöne Aussicht, so der Name der Straße, von der aus der Blick auf die Karlsaue wandern könnte, ist ein wenig verstellt. Nicht von Architektur, sondern von Bäumen. Sie werden wohl im Zug der Kulturhauptstadt-Planungen der Kreissäge zum Opfer fallen. An der Schönen Aussicht liegt das Brüder-Grimm-Museum. Daneben die Neue Galerie, in der eine der wichtigsten Arbeiten von Joseph Beuys zu besichtigen ist: "Das Rudel" besteht aus einem schon zum Zeitpunkt seines Kunstwerdens alten VW-Bus, aus dem zweiunddreißig Schlitten, jeweils mit Talgklumpen, Taschenlampe und Filzrolle ausgestattet, herausquellen. Es ist nicht irgendein Kleintransporter, den der mit Kassel als Weltkunstmetropole innig verbundene Mann vom Niederrhein benutzte. 1968 hat René Block einundzwanzig Kunstwerke in das Gefährt gequetscht, um in Prag eine Ausstellung im Gedenken an das von den Nationalsozialisten ausgelöschte Dorf Lidice zu zeigen. Die Schau war nur kurze Zeit zu sehen. Die Arbeiten verschwanden, nachdem die Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschiert waren, und tauchten 1996 überraschend gut erhalten wieder auf. Kassel ist voll von derlei Kunstgeschichten. Überall begegnet man Werken im öffentlichen Raum, darunter Claes Oldenburgs "Spitzhacke" und Jonathan Borowskis "Himmelsstürmer", Relikte der Großausstellungen. Und den "7000 Eichen", die Beuys pflanzen ließ. Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung.

Das Wahrzeichen der Stadt: Der 20 Tonnen schwere Herkules

Thomas-Erik Junge weiß als Theologe, was Enthusiasmus ist. Der Kasseler Kulturdezernent und Bürgermeister wirkt, als sei er vom heiligen Feuer erfüllt, wenn er in seinen gediegenen Amtsräumen von den "Bruchlinien" erzählt, die in Kassel so sichtbar seien wie in keiner anderen Stadt. Die Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts, der radikale Wiederaufbau in den fünfziger Jahren, ein Stadtbild, durchsetzt mit fürstlichen Hinterlassenschaften: In Kassel, sagt der CDU-Mann, könne man nachvollziehen, woraus Europa geschöpft habe, was mit Europa geschehen sei. Nicht nur der Mythos des Herkules sei mit Kassel verbunden, hier lagere etwa auch das Original des "Hildebrandslieds", und in den Dörfern ringsum hätten die Brüder Grimm ihre Märchen und Sagen zusammengetragen. Junge knüpft Verbindungen. Kassel wird zum archetypischen Ort, an dem Romantik und Aufklärung, Geschichte und Gegenwart eine Synthese eingehen. In dicken Broschüren haben die Kulturstadt-Begeisterten zusammengetragen, wie sich Mosaikstein an Mosaikstein zur Gesamtansicht einer wahrlich europäischen Kommune fügt.

Ein unschlagbares Argument

"Ich glaube, daß diese Stadt mehr im Archiv als in der Auslage hat", sagt Bernd Leifeld, Geschäfsführer der documenta. Er residiert, wie es sich für den Organisator der weltgrößten Kunstschau gehört, in loftartigen Räumen. In seinem Büro schaut Arnold Bode, Maler, Kunstprofessor und documenta-Gründer, mahnend von der Wand. 1955 hatte er die erste Kunstschau eingerichtet, als kulturelles Beiprogramm zur Bundesgartenschau. Die Idee schlug im kulturell immer noch ausgehungerten Deutschland so ein, daß sich daraus die unbestritten bedeutendste Kunstveranstaltung des Planeten entwickelte. Alle fünf Jahre findet sie statt, jeweils mit einem anderen künstlerischen Leiter, das nächste Mal wieder im Jahr 2007. "Wir haben uns bewußt dagegen entschieden, die nächste documenta 2010 zu machen", erläutert Leifeld. Dennoch spiele sie im Konzept für das Kulturhauptstadt-Jahr eine ebenso entscheidende Rolle wie bei der Bewerbung. Bis 2010 soll ein Haus entstehen, das die geplante documenta-Akademie, das documenta-Archiv und andere Einrichtungen beherbergen wird. 2005 feiert die "documenta" ihren fünfzigsten Geburtstag mit einer historischen Ausstellung. Sie wird an mehreren Stationen gezeigt. Die erste nach Kassel ist Brüssel, wo sie sich natürlich ganz besonders den Beamten der Europäischen Union empfiehlt - als unschlagbares Argument für Kassel als Kulturhauptstadt Europas 2010.

Motto der Bewerbung: "Kassel gewinnt - auf dem Weg zur Kulturhauptstadt Europas 2010"

Einwohnerzahl: 194000

Kulturetat: 24 Millionen pro Jahr

Zahl der Museen: 16, alle fünf Jahre die weltweit wichtigste Ausstellung für zeitgenössische Kunst, die documenta

Wichtigste Sehenswürdigkeiten:
Bergpark mit Herkules und Schloß Wilhelmshöhe; Karlsaue mit Orangerie; Fridericianum; Ottoneum

Bedeutendstes Kunstwerk: Beuys' "7000 Eichen"; Rembrandts "Saskia"

Stadtprominenz: Jakob und Wilhelm Grimm; Gustav Mahler; Philipp Scheidemann

Beliebtestes Souvenir: Herkules in allen Größen und Varianten von Bronze bis Schokolade

Informationen: Kassel Tourist, Obere Königsstraße 15, 34117 Kassel. Telefon: 0561/707707, E-Mail: tourist@ kassel-tourist.info, Internet: www.kassel.de und www.kassel2010.de

Quelle Stadt Kassel

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.11.2004, Nr. 258 / Seite R10
Bildmaterial: Frank Röth, dpa
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