Der Fremde, der durch das
nordhessische Waldmeer gereist ist, kann sich schließlich der
Anmutung einer gewissen Abgelegenheit nicht entziehen. Und wenn er
nach Verlassen des modernistisch-großspurigen, freilich nur selten
von Menschenmassen bevölkerten ICE-Bahnhofs Wilhelmshöhe einer
verbauten und verbastelten Innenstadt entgegenfährt, wird er
zunächst einmal allenfalls den Reiz des Reizlosen und zwanglos
Zusammengewürfelten verspüren. Nimmt er freilich den Weg in Richtung
Bad Wilhelmshöhe, sieht schon am Anfang der Annäherung alles ganz
anders aus: nach großzügiger Stadtplanung und monumentalem
Gestaltungswillen nämlich; nach jener von Barock und Klassizismus
geprägten Residenzstadt, die Kassel einmal war.
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Schick oder scheußlich: In Kassel zeigt das
Nachkriegsdeutschland, hier die Treppenstraße, sein
ungeschminktes Gesicht |
Die Geschichte weiter
zurückliegender Jahrhunderte wirkt im kriegs- und
nachkriegszerstörten Kassel manchmal mächtig, manchmal nur unter der
architektonisch-städtebaulichen Oberfläche. Die Geschichte vor allem
der Landgrafen von Hessen-Kassel, von Karl, Friedrich II., Wilhelm
IX., die dem Fürstensitz ihren ästhetischen Willen aufdrückten mit
ausufernden Parks, grandiosen Schlössern und repräsentativen
Kunstwerken im höfischen Raum. Die schnurgerade Wilhelmshöher Allee,
eine nach barockem Vorbild Mitte des neunzehnten Jahrhunderts
geschaffene Achse, verbindet das Zentrum mit dem Schloß gleichen
Namens, mit dem Bergpark, mit dem Herkules. Der Augsburger
Goldschmied Jacob Anthoni arbeitete zwischen 1713 und 1717 an dem
kupfernen Koloß, der mehr als acht Meter mißt und sich auf eine fast
fünf Meter hohe Keule stützt.
Halbgott als
Idealbild
Der antike Held steht auf
einem Oktogon und einer Pyramide, hoch oben über dem
herrschaftlichen Landschaftsgarten mit seinen gewaltigen
Wasserspielen und seiner verspielten Lustarchitektur. Der Architekt
Giovanni Francesco Guerniero hat sie einst gemeinsam mit dem
Landesherrn Karl geplant. Der hatte ein Faible für Italien. Der
Landgraf, der 1677 die Regierungsgeschäfte übernommen hatte, stellte
sich mit der Riesenskulptur als hessischer Herkules dem Volk und den
Nachbarreichen dar - ein Halbgott, der alle Aufgaben zu lösen
vermag. Das war nichts ganz Ungewöhnliches in jener absolutistischen
Epoche: Schon seit dem sechzehnten Jahrhundert hatten Europas
Potentaten die Figur des farnesischen Herkules zu ihrem Idealbild
erkoren. Ein paar Zeitalter später ist die mythologische Gestalt zum
Inbild der Kulturhauptstadt-Bewerbung Kassels geworden. "Die neuen
Aufgaben des Herkules" ist das Programm überschrieben, mit dem die
Nordhessen die neun anderen deutschen Bewerber ausstechen
wollen.
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Skulpturen zieren die Karlsaue, eine prächtige
Parkanlage vor der Orangerie |
Zwölfmal mußte sich Herkules
beweisen, bevor er unsterblich werden durfte. Zwölf Aufgaben hat
sich Kassel aufgegeben, um die Lust der Einwohner an ihrer Stadt zu
mehren und ein paar mehr von den vielen Durchreisenden, die täglich
durch Kassel kommen, am Bahnhof Wilhelmshöhe zum Aussteigen zu
bewegen. "Aufbruch wagen" heißt die erste Herkulestat. Wer in diesen
Tagen mit Kasseler Kulturleuten spricht, merkt, daß es sich dabei
nicht um eine Allerweltsfloskel handelt. Nicht in Kassel. Hier gibt
es tatsächlich eine Aufbruchstimmung, hier ziehen viele an einem
Strang. Sie wollen den Provinzkomplex überwinden. Der neue Intendant
des Staatstheaters, Thomas Bockelmann, dessen Großes Haus wegen der
Sanierung derzeit in ein großes Zirkuszelt auf dem Friedrichsplatz
umgezogen ist, ebenso wie Ruth Wagner, die altgediente Leiterin der
städtischen Kulturabteilung, die als guter Geist der
Kulturhauptstadtbewerbung alle Fäden in der Hand hält. Sie wollen
beweisen, daß Kassel mitten in Europa liegt und schon lange aus dem
Zonenrandschlaf erwacht ist. Sie wollen Europas Kulturhauptstadt
2010 werden, ob sie diesen Titel letztlich erringen oder nicht.
Hundertvierzig Projekte sind in Angriff genommen worden.
Keine Chance für
Frankfurt
Kassel hat starke Verbündete:
Der Segen der Hessischen Landesregierung ruht auf dieser Stadt, auf
dieser Kulturhauptstadtbewerbung. Viel Geld fließt aus Wiesbaden in
die Region. Zweihundert Millionen Euro gibt es aus der Landeskasse
für Renovierung und Ausbau der Museen. Als klar wurde, daß Hessens
Ministerpräsident Roland Koch sich für Kassel einsetzt, zog
Frankfurt, das ebenfalls Ambitionen hatte, seine Bewerbung
schleunigst zurück.
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Die Friedenskirche in Kassel |
In der nordhessischen
Großstadt ist, kein Wunder bei so hohen Investitionen, die Zeit der
Berater angebrochen. Einer von ihnen ist Dieter Bogner. Er stammt
aus Wien, arbeitet für das Frankfurter Büro Albert Speer und Partner
und schwärmt von Kassel, dessen "Museumslandschaft" er
mitentwickelt. "Die Zeit der Mittelstädte ist da", sagt er. "Eine
Stadt wie Kassel kann man in den Griff bekommen." Die vielen Museen
der Stadt sollen einen einheitlichen Auftritt erhalten, Sammlungen,
die bislang im verborgenen schlummerten wie die volkskundliche, ans
Licht geholt werden. Am Fuß des Bergparks sind Besucherzentren
geplant, das Schloßmuseum soll weiter saniert werden, auch der
Herkules wird, so ist es vorgesehen, in neuem Glanz erstrahlen. Die
Verbindung von Innenstadt-Museen und Wilhelmshöhe gehört zu den
zentralen Vorhaben. Die Planer haben nichts und niemanden
ausgelassen. Auch nicht die Urlauber am Edersee und im
nordhessischen Bergland: Mit Erlebnis-Angeboten sollen sie in die
Stadt gelockt werden. Irgendwann, so die Vision der
Alles-mit-allem-Verbinder, wird wie selbstverständlich auf den
Campingplätzen im Umland der Ruf erschallen: "Kommt, Kinder, heut
fahren wir ins Museum."
Stolz und
Selbstzweifel
Michael Eissenhauer, seit
2001 Direktor der Staatlichen Museen Kassel, residiert fürstlich.
Der Blick schweift auf bergige Höhen, barocke Gartenbaukunst und
klassizistische Fassaden. Eissenhauer ist unter anderem der Herr
über Schloß Wilhelmshöhe mit seiner Antiken-Sammlung und seiner
exquisiten Kollektion Alter Meister. Der Kasseler Apollon steht in
zeitlos athletischer Vollkommenheit vor den Besuchern, Rembrandts
intimes Familienbild des Jakobssegens gilt als Hauptwerk des
Niederländers, im "Flora-Saal" zeigen großformatige Bilder gleichsam
im Zoom-Verfahren reale wie ideale Ansichten der Schloß- und
Gartenanlagen mit ihren Grotten, Kaskaden und Terrassen. Der
Museumsdirektor spricht von den Selbstzweifeln, die in Kassel
grassieren, um sogleich mit unverhohlenem Stolz auf das zu
verweisen, was man hat: Kultur. Sehr viel Kultur.
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Viele Stufen führen hinauf zum Herkules. Die
Wasserspiele sind nur gelegentlich in
Betrieb |
Kassel ist der viertgrößte
Museumsstandort in deutschen Landen. Und dank der documenta immerhin
schon einmal Kunsthauptstadt der Welt. Auch zwischen den
documenta-Jahren widmen sich Ausstellungsmacher kompromißlos der
künstlerischen Moderne. So bespielt René Block das Fridericianum mit
Ausstellungen, die auch in der documenta-freien Zeit vom hohen
Anspruch der Kasseler Kunstvermittlung zeugen. Wer im
internationalen Kunstbetrieb sein Ein- und Auskommen findet, hat
allenthalben noch einen Koffer in Kassel.
Eine unprätentiöse
Schönheit
Die Stadt ist keine spröde
Schönheit, der sich zu nähern mit manchen Hindernissen verbunden
wäre. Kassel ist eine unprätentiöse Schönheit, die ganz überrascht
ist, wenn man ihr gesteht, wie attraktiv sie sei. Mit großer
Unschuld trägt sie sogar ihre prächtigen Seiten zur Schau. Aber auch
ihre weniger prächtigen erregen Interesse. Weil sie symptomatisch
sind. Die deutsche Realität nach zwei Weltkriegen, nach der Teilung
des Landes, nach Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und
Wiedereingliederung in die europäische Wertegemeinschaft wird in
Kassel kaum weniger sichtbar als in Berlin. Die Narben liegen offen,
und auch die Mittel, mit denen die Nachkriegsgesellschaft versucht
hat, die Wunden zu schließen. Kunst als Kompensation. In der
kompromißlosen Hinwendung zur Moderne hat die documenta Deutschland
den Anschluß an die West-, an die Weltkunst gesichert.
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Hoch oben vom Herkules sieht man das große Ganze
Kassels unter sich |
Daß sich die Kunst, die in
die Stadt kommt, die Kunst, die sich in den städtischen Sammlungen
findet, und die kunstlose Architektur der Nachkriegszeit zu etwas
Einheitlichem fügen lassen, haben die Verantwortlichen erkannt.
Nachdem die städtebaulichen fünfziger Jahre in der Wahrnehmung
mittlerweile zwischen schick und scheußlich changieren, läßt sich
auch Kassels berühmt-berüchtigter "Treppenstraße" etwas abgewinnen.
Zumindest ist sie ein authentisches Zeugnis der
Nachkriegsarchitektur, zweckmäßig und auf unbeholfene Art neckisch.
Man wollte sich absetzen von der Auftrumpf- und
Überwältigungsarchitektur im "Dritten Reich". Ohnehin lugt, wo immer
das Häßliche überhandnimmt, in Kassel auch das den Augen
Wohlgefällige hervor. Fridericianum und Friedrichsplatz, das
Ottoneum, der erste feste Theaterbau Deutschlands, und die
weitläufige Karlsaue mit der Orangerie bilden den Mittelpunkt der
Stadt - ein einzigartiges Ensemble jenseits jeder städtischen
Verdichtung.
Spitzhacken und
Himmelsstürmer
Die Schöne Aussicht, so der
Name der Straße, von der aus der Blick auf die Karlsaue wandern
könnte, ist ein wenig verstellt. Nicht von Architektur, sondern von
Bäumen. Sie werden wohl im Zug der Kulturhauptstadt-Planungen der
Kreissäge zum Opfer fallen. An der Schönen Aussicht liegt das
Brüder-Grimm-Museum. Daneben die Neue Galerie, in der eine der
wichtigsten Arbeiten von Joseph Beuys zu besichtigen ist: "Das
Rudel" besteht aus einem schon zum Zeitpunkt seines Kunstwerdens
alten VW-Bus, aus dem zweiunddreißig Schlitten, jeweils mit
Talgklumpen, Taschenlampe und Filzrolle ausgestattet, herausquellen.
Es ist nicht irgendein Kleintransporter, den der mit Kassel als
Weltkunstmetropole innig verbundene Mann vom Niederrhein benutzte.
1968 hat René Block einundzwanzig Kunstwerke in das Gefährt
gequetscht, um in Prag eine Ausstellung im Gedenken an das von den
Nationalsozialisten ausgelöschte Dorf Lidice zu zeigen. Die Schau
war nur kurze Zeit zu sehen. Die Arbeiten verschwanden, nachdem die
Truppen des Warschauer Pakts in Prag einmarschiert waren, und
tauchten 1996 überraschend gut erhalten wieder auf. Kassel ist voll
von derlei Kunstgeschichten. Überall begegnet man Werken im
öffentlichen Raum, darunter Claes Oldenburgs "Spitzhacke" und
Jonathan Borowskis "Himmelsstürmer", Relikte der Großausstellungen.
Und den "7000 Eichen", die Beuys pflanzen ließ. Stadtverwaldung
statt Stadtverwaltung.
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Das Wahrzeichen der Stadt: Der 20 Tonnen schwere
Herkules |
Thomas-Erik Junge weiß als
Theologe, was Enthusiasmus ist. Der Kasseler Kulturdezernent und
Bürgermeister wirkt, als sei er vom heiligen Feuer erfüllt, wenn er
in seinen gediegenen Amtsräumen von den "Bruchlinien" erzählt, die
in Kassel so sichtbar seien wie in keiner anderen Stadt. Die
Verwerfungen des zwanzigsten Jahrhunderts, der radikale Wiederaufbau
in den fünfziger Jahren, ein Stadtbild, durchsetzt mit fürstlichen
Hinterlassenschaften: In Kassel, sagt der CDU-Mann, könne man
nachvollziehen, woraus Europa geschöpft habe, was mit Europa
geschehen sei. Nicht nur der Mythos des Herkules sei mit Kassel
verbunden, hier lagere etwa auch das Original des
"Hildebrandslieds", und in den Dörfern ringsum hätten die Brüder
Grimm ihre Märchen und Sagen zusammengetragen. Junge knüpft
Verbindungen. Kassel wird zum archetypischen Ort, an dem Romantik
und Aufklärung, Geschichte und Gegenwart eine Synthese eingehen. In
dicken Broschüren haben die Kulturstadt-Begeisterten
zusammengetragen, wie sich Mosaikstein an Mosaikstein zur
Gesamtansicht einer wahrlich europäischen Kommune fügt.
Ein unschlagbares
Argument
"Ich glaube, daß diese Stadt
mehr im Archiv als in der Auslage hat", sagt Bernd Leifeld,
Geschäfsführer der documenta. Er residiert, wie es sich für den
Organisator der weltgrößten Kunstschau gehört, in loftartigen
Räumen. In seinem Büro schaut Arnold Bode, Maler, Kunstprofessor und
documenta-Gründer, mahnend von der Wand. 1955 hatte er die erste
Kunstschau eingerichtet, als kulturelles Beiprogramm zur
Bundesgartenschau. Die Idee schlug im kulturell immer noch
ausgehungerten Deutschland so ein, daß sich daraus die unbestritten
bedeutendste Kunstveranstaltung des Planeten entwickelte. Alle fünf
Jahre findet sie statt, jeweils mit einem anderen künstlerischen
Leiter, das nächste Mal wieder im Jahr 2007. "Wir haben uns bewußt
dagegen entschieden, die nächste documenta 2010 zu machen",
erläutert Leifeld. Dennoch spiele sie im Konzept für das
Kulturhauptstadt-Jahr eine ebenso entscheidende Rolle wie bei der
Bewerbung. Bis 2010 soll ein Haus entstehen, das die geplante
documenta-Akademie, das documenta-Archiv und andere Einrichtungen
beherbergen wird. 2005 feiert die "documenta" ihren fünfzigsten
Geburtstag mit einer historischen Ausstellung. Sie wird an mehreren
Stationen gezeigt. Die erste nach Kassel ist Brüssel, wo sie sich
natürlich ganz besonders den Beamten der Europäischen Union
empfiehlt - als unschlagbares Argument für Kassel als
Kulturhauptstadt Europas 2010.