Salzburger Nachrichten am 7. Dezember 2005 - Bereich: Kultur
"Die Ruhe war unerschütterlich" In einer großen
Ausstellung von Aquarellen und Zeichnungen zeigt die Albertina, wie Egon
Schiele wirklich war: Ruhig, sensibel und neugierig.
LASZLO MOLNARWIEN (SN). Egon Schiele zieht die Massen an: Von dem
Wiener Maler erwartet man nach wie vor, 85 Jahre nach seinem Tod an der
Spanischen Grippe 1918, das Skandalöse: Schiele als der Zeichner und Maler
des krankhaft Obszönen, von gnadenlos enthüllten Körpern, die sich einsam
auf sonst leeren Bildflächen krümmen. Unkommentiert mag Schieles Kunst in diese Richtung verweisen. Ab heute,
Mittwoch, aber zeigt die Albertina in Wien, dass es sich bei Schiele um
den "normalsten unter allen normalen Menschen" handelte, wie Klaus
Albrecht Schröder, der Kurator der Ausstellung, in seiner Einführung
betont. Einen normalen Menschen allerdings, der mit eben so viel
Sensibilität wie Neugierde ausgestattet war, um Dinge aufzunehmen und
darzustellen, die zu seiner Zeit Tabu waren. Die Albertina kann dies leisten, weil sie mit einem Bestand von über
200 Aquarellen und Zeichnungen Schieles eine Autorität zu diesem Thema
besitzt, die durch den Rummel um die Schiele-Gemälde der Sammlung Leopold
überdeckt wird. Sie kamen durch verschiedene Sammlungen und Schenkungen in
die Albertina, darunter die Sammlung von Heinrich Benesch, einem Beamten
und engen Freund Schieles, der zu dessen Lebzeiten die größte Sammlung
seiner Zeichnungen und Aquarelle aufgebaut hatte. "Schieles heitere Ruhe
war unerschütterlich", schrieb Benesch in seinen Erinnerungen. Schröder hat aus "seiner" Sammlung 130 Arbeiten ausgewählt und sie um
90 Leihstücke aus Europa und den USA ergänzt, um bestimmte "Serien" in
Schieles Werk komplett zeigen zu können. Die Ausstellung verfolgt,
chronologisch und nach stilistisch zusammenhängenden Gruppen geordnet, die
Entwicklung von Schieles Arbeitsweise und seiner Laufbahn. Dadurch erfährt der Betrachter, dass es sich bei Egon Schiele um einen
Künstler handelte, der sich durch Temperament auszeichnete und dabei sehr
systematisch arbeitete. Seine eminenten technischen Fertigkeiten - Schiele
war ein "Schnellzeichner", der eine Zeichnung innerhalb weniger Minuten
anfertigte und so in kurzer Zeit mehrere Zeichnungen von einem Modell
machen konnte - hatte er in einer soliden Ausbildung an der Wiener
Akademie der bildenden Künste erhalten; seine Sichtweise hatte er im
Umfeld der Sezessionisten und Gustav Klimts erworben. Derart in Bezug zueinander gestellt, wirken Schieles Nacktstudien weder
obszön noch hysterisch überzeichnet. Schieles Expressionismus ist vielmehr
eine Sache des klaren Blicks und des Willens, nichts beschönigen zu
wollen; der Psychologe Schiele trifft dabei immer die Gemütslage; sei es
die Verzweiflung in seinen Gefängnis-Selbstporträts, eine geradezu
leuchtende Ruhe in den Porträts seiner Frau Edith oder die eigentümliche
Leere so vieler seiner Modelle aus dem einfachen Milieu. Unaufgeregt, durchdacht, "sachlich" im Sinne der Wirkung der Bilder
führt die Ausstellung in den Propter-Homines-Räumen durch die Entfaltung
eines Künstlerlebens, dessen frühes Ende mit 28 Jahren der Betrachter um
so abrupter, auch schmerzlicher erlebt. Als er an der Grippe starb, war
Schiele alles andere als ausgezehrt - er hatte gerade einen Höhepunkt
seiner Anerkennung erklommen.Geöffnet bis 19. März 2006, tägl. 10 bis 18
Uhr, Mi. bis 21 Uhr. Katalog 420 Seiten, 29 Euro. www.albertina at. |