Quelle: www.hna.de vom 27.06.2007
Rubrik: Documenta 12
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Ein Freiraum für das, was undenkbar scheint

Ruth Noack

Der "Kristallpalast" erinnert an die Halle eines Baumarkts, das Reisfeld droht zu rutschen, vom Mohn ist nichts zu sehen, Ferran Adrià bleibt an der Costa Brava. Hat documenta-Leiter Roger M. Buergel Versprechungen gemacht, die die documenta 12 nicht hält? Kuratorin Ruth Noack antwortet in einer Stellungnahme an unsere Leser.

Liebe Leserinnen und Leser!

Der Mohn erblüht nicht zur Eröffnung und der Leiter der d12 sagt, das gehöre so. Ai Weiweis Tempel stürzt ein und der Leiter der d12 sieht darin auch Gutes. Und das von ihm selbst geprägte Bild des Kristallpalastes hat Roger M. Buergel nun durch ein kleines Wörtchen - Favela - deutlich relativiert. Wo, fragt die Presse, bleibt denn da die Verbindlichkeit?

Zunächst einmal stellt sich die Frage des Gegenüber: Wem gegenüber verspürt man Verbindlichkeit? Wir sind in erster Linie den KünstlerInnen, dem Publikum und der Idee "documenta" verpflichtet. Die Verbindlichkeit gegenüber den Künstlern ist schnell geklärt: Es gilt, ihr Werk so zu präsentieren, dass die jeweilige Vielschichtigkeit zur Geltung kommt.

Solange Ivekovics Mohnfeld nicht blüht, kann über die Inhalte diskutiert werden. Blüht es einmal, wird das Kunstwerk gewissermaßen eingefroren. Jedermann wird ein Foto vom Mohn machen und damit hat sich die Angelegenheit. Ai Weiwei war sicher auch deshalb erfreut über den Zusammensturz seines Tempels, weil sich ein festes Bild verflüssigte und aus der Erstarrung zu etwas Neuem formte.

Ohne die Fähigkeit der künstlerischen Leitung, Visionen zu entwickeln und voranzutreiben, die zunächst einmal undenkbar oder undurchführbar erscheinen, könnte die Idee "documenta" nicht überleben. Wer aber Roger M. Buergel lediglich an seiner Rhetorik misst, verkennt, dass die Rhetorik ein Mittel ist, überhaupt erst einen Freiraum zu schaffen, in dem das, was zuvor unmöglich erschien, denkbar und auch ein Stück weit realisierbar wird. Ist es wirklich wichtig, ob ein Kristallpalast versprochen war? Ermöglicht wurde immerhin ein 10 000-Quadratmeter-Gebäude, das eine neuartige und interessante Begegnung zwischen Publikum und Kunst erlaubt. Wer in den letzten Tagen im Aue-Pavillon war, wird bestätigen können, dass jenseits von Katastrophenbildern eine für eine Massenveranstaltung ungewöhnlich entspannte Stimmung herrscht, die von Neugier und Aufmerksamkeit geprägt ist. Die Idee "documenta" steht für Avanciertheit und Avanciertheit ist nicht immer en vogue. Verbindlichkeit bedeutet an dieser Stelle, diese Idee nicht zu verraten, selbst wenn das bedeutet, jemanden vor den Kopf zu stoßen.

Will die künstlerische Leitung das Publikum vor den Kopf stoßen? Nein. Ich denke, Roger M. Buergel hält das Publikum für fähig, sich selbst ein Bild zu machen und seine rhetorischen Volten dienen eher dazu, dem Publikum mehr oder minder direkt vor Augen zu führen, was die Kunst und nur die Kunst kann: die Bedeutung der Dinge offenzuhalten. Das will nicht heißen, dass nun jede Interpretation eines Kunstwerks sinnvoll ist, sondern dass jeder erst einmal hingucken muss. Und dann vielleicht noch einmal hinguckt. Dann kommt das Gespräch über das, was man da gesehen und erfahren hat. Erst dieses Gespräch schafft echte Verbindlichkeit.

Meiner Beobachtung nach sind es die Massenmedien, die diese Verlangsamung des Rezeptionsprozesses am wenigsten aushalten. Sie wollen Nägel mit Köpfen, sie wollen auf Teufel komm raus die gute oder schlechte Nachricht, und zur Not schafft man mit Überschwemmungsszenarien auch neue Verbindlichkeiten.

Mit herzlichen Grüßen,

Ihre Ruth Noack

Erfüllt die d 12 Ihre Erwartungen? Diskutieren Sie mit unter www.hna.de/forum oder schreiben Sie uns: Fax 0561/203-2340, HNA-Kulturrredaktion, Frankfurter Straße 168, 34121 Kassel.




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