03.09.2001 22:09:00 MEZ
Ein Grab für die Sonne
Kasimir Malewitsch, Frontfigur der russischen Avantgarde, im Kunstforum

Malerische Kultur ohne ästhetische Schnörkel erstrebte Kasimir Malewitsch, Frontfigur der russischen Avantgarde. Seinen Stilpluralismus zeigt das Kunstforum.

Doris Krumpl


Wien - Konsequenterweise wäre nach dem roten, schwarzen und weißen Quadrat sowie dem Kreuz und dem Kreis einfach Schluss zu machen. Schluss mit der Malerei. Doch diese Urformen, die Kasimir Malewitsch zur abstraktesten Form dieser Flucht vor der Natur gerinnen ließ, bildeten die Basis für sein suprematistisches Alphabet, das nichts Geringeres anstellen sollte, als der Welt eine komplette Radikalkur zu verpassen. Richtig, wir befinden uns am Beginn des 20. Jahrhunderts, mitten in Russland, mitten in den kühnsten Utopien, wo Künstler die Stimmung der Oktoberrevolution antizipierten (und später dementsprechend desillusioniert wurden).

Dorthin versetzt einen das Kunstforum der Bank Austria mit einer Personale Kasimir Malewitsch (1878-1935), mit rund 120 Bildern, Zeichnungen und Architekturmodellen, gespeist aus den Beständen des Russischen Museums St. Petersburg.

Der neue Mensch, der den Alb der Tradition zerstört, stand im Vordergrund. Die Sonne als Zentrum einer symbolischen Ordnung, die von Aufklärern wie Kritikern als Referenzpunkt galt, schien auch nicht mehr nötig. Der Sieg über die Sonne wurde 1913 als Oper erwünscht und gefeiert, und Malewitsch entwarf ihr ein Grab - einen strengen, puristischen Betonkubus.

Eine kalte Welt, um den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben, in der entpersonalisierte Zukunftsbauernmenschen arbeiten. Insofern kann die russische Avantgarde und mit ihr Malewitsch auch als futuristische Vorhut des maschinellen Zeitalters angesehen werden, die scheiterte. Vom Kanon des späteren sozialistischen Realismus weit entfernt, fristeten Malewitschs Werke bis in die 80er-Jahre in dunklen Archiven ihr Dasein, sodass seine gänzliche Bedeutung sich erst seit relativ kurzem genauer erschloss.

1919 war die Welt noch in Ordnung, die X. Staatsausstellung, an der Malewitsch teilnahm, hieß "Gegenstandsloses Kunstschaffen und Suprematismus". Letzterer ist eine universelle Sprache, welche die überpersonelle Essenz der Kunst, die "Suprematie der Empfindung" in den Vordergrund stellte. In der Ausstellung 0,10 zeigte Malewitsch 1915 das rote Quadrat, das in einer Art Herrgottswinkel im Kunstforum diebstahlsicher als Ikone zu verehren ist.

Im selben Saal stehen sich eine Ikone des 16. Jahrhunderts und ein realistisches, an Fürstenporträts der Renaissance gemahnendes spätes Selbstporträt des Künstlers gegenüber. Dazwischen Kreis, Kreuz und eines der schwarzen Quadrate aus den frühen 20er-Jahren: Nicht nur der Suprematismus steht im Mittelpunkt der Schau, sondern der Stilpluralismus. Mindestens die Hälfte der Exponate entstand 1929/30, als Malewitsch wieder Malerei an sich studierte und sämtliche seiner wie der übernommenen Stile durchdeklinierte.

Versionen ein und desselben Themas kommen impressionistisch, suprematistisch oder kubofuturistisch daher. Einmal Avantgarde, einmal kitschiges und dennoch schräges Epigonentum. Dabei erschwert es noch, dass Malewitsch die Bilder manchmal rückdatiert, ins Jahr ihrer "Erfindung".

Anders als Rodtschenko etwa wechselte Malewitsch nicht zur Fotografie. Nach dem Endpunkt der Malerei tastete er sich in eine Art Realismus zurück. Begraben ließ er sich in Kreuzesform, mit ausgebreiteten Armen. "Wir Suprematisten bahnen euch den Weg", schrieb der Künstler. "Beeilt euch! Denn schon morgen werdet ihr uns nicht mehr erkennen."
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.9. 2001)


Quelle: © derStandard.at