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14. September 2008
18:14 MESZ

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Museo Nitsch
Vico Lungo Pontecorvo 29D, Di-So 10-19 Uhr.

 

Hermann Nitsch und Giuseppe Morra haben den Endspurt geschafft und freuen sich auf die Eröffnung des Nitsch-Museums.


Die Eröffnung findet mit Blick auf Neapel und im Beisein von mehr als 2000 Besuchern statt.


Gesamtkunstwerk der Reinigung
Der Unternehmer und Sammler Morra hat sich einen Traum erfüllt, und der Aktionist Nitsch bekommt ein eigenes großes Museum - am Wochenende wurde es in Neapel eröffnet

Es ist nur ein kurzer Aufstieg, doch er eröffnet eine andere Welt. Von der chaotischen Piazza Dante im historischen Zentrum der Stadt führen Stiegen und steile, winkelige Gassen zu einer Terrasse. Sie gibt den Blick frei über Neapel bis zum Vesuv. Und an ihrem Rand steht die Stazione Bellini, erbaut 1892, ein ehemaliges E-Werk und seit dem Wochenende Sitz des Museo Archivio Laboratorio per le Arti Contemporanee Hermann Nitsch.

Mehr als 200 Freunde, Sammler, Kulturpolitiker und -experten waren hauptsächlich aus Österreich und Deutschland angereist, um am Samstagabend die Eröffnung des Nitsch-Museums zu feiern. Dazu kamen rund 2000 Neapolitaner jeden Alters, angezogen von Vorberichten in den Medien und von der Neugierde auf den österreichischen Künstler. (Dabei trat gleichzeitig Sophia Loren auf der Piazza Plebiscito bei dem Volksfest Piedigrotta als "Patin der Stadt" und Ehrengast auf.)

Die Eröffnung in allen Details bis hin zu Pizza, Mozzarella und Sachertorte - eine runde Sache also - organisierte Rita Nitsch, die unermüdliche Frau des Künstlers. Dass das Museum überhaupt zustande kam, ist dem Unternehmer, Galeristen und Verleger Giuseppe Morra und seiner jahrzehntelangen Freundschaft mit Nitsch zu danken.

Polysensorisches Ereignis

1974 organisierte Morra in seiner Galerie den ersten Auftritt des Aktionisten in Italien. Sie endete in einem Skandal und mit Landesverweisen. "Peppe aber hat zu mir gehalten", erinnert sich Nitsch. Über die Jahre kuratierte Morra weitere Orgien-Mysterien-Theater-Aufführungen und sammelte Dokumente und Relikte dessen an, was Nitsch als Gesamtkunstwerk anstrebt: ein polysensorisches Ereignis, das in der Nachfolge der Fluxus-Bewegung der Reinigung dient, der Katharsis im psychodynamischen Sinn und der Erlösung durch Schönheit.

Schließlich fand Morra in der stillgelegten Stazione den nötigen Rahmen für seine Auseinandersetzung mit dem Aktionisten. Es ist nach dem letztes Jahr eröffneten Museumszentrum Mistelbach Nitschs zweite permanente Stätte, das dritte Museum für Gegenwartskunst in Neapel und das erste der Stadt, das monothematisch einem Künstler gewidmet ist. Das niederösterreichische Prinzendorf besteht weiterhin als Aufführungsort für OM-Theater-Aufführungen: "mein Bayreuth".

"In Italien wird viel geplant, aber wenig zu Ende geführt", sagte der Kunsthistoriker Achille Bonito Oliva bei der Eröffnung. "Peppe Morra ist der Beweis, dass es auch anders geht." Und das in großem Stil: Sorgfältig arrangiert geben Videos, Fotos, Leinwände, Tragbahren, Partituren und Schüttbilder Ahnungen von den OM-Spektakeln. Regalwände mit Reagenzgläsern, Pipetten und Farbtafeln zeugen von ihrer durchdachten Strenge, Tonspuren von Volksblasmusik bis zu Trommeln und Chorälen verstärken das Erlebnis. Ein eigener Geruchsraum wird auch diesen Sinn bedienen.

Wichtig ist dem wissenschaftlichen Komitee, so dessen Mitglied Bonito Oliva, dass sich Besucher interaktiv des Museums bedienen, statt als passive Voyeure zu verharren.

Die Fondazione Morra, die Stiftung des Mäzens an der Piazza Dante, ist zurzeit ebenfalls Nitsch gewidmet; von dem ehrfurchtgebietenden Barockpalast soll ein Schräglift einmal die 40 Höhenmeter zum Museum überwinden. Am Vorabend der Eröffnung lud Morra zum Abendessen unter Sternen auf dem großen Platz. Mehr als 200 kamen und blieben bis nach Mitternacht.

Heidnische Wurzeln

Wie sehr sich das Museo Nitsch, das immerhin bereits gut ausgeschildert ist, in der urbanen Anarchie Neapels behaupten wird, bleibt abzuwarten. Der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny sieht es als unterstützenswerte Initiative, die allein schon durch die vielen wechselseitigen Besuche einiges in Gang gesetzt hat. Wolfgang Denk, dem Leiter des Mistelbacher Museums, ist aufgefallen, wie viel umgerührt werden kann, wenn man in einer Umgebung operiert, in der andere Bauvorschriften gelten - oder anders beachtet werden.

Ist es Zufall, dass gerade ein neapolitanischer Sammler auf den Wiener Aktionismus gekommen ist? Nitsch glaubt das nicht. "Die Stadt hat etwas Expressives, Übertriebenes, Dramatisches, das meiner Kunst verwandt ist." Die Weinkultur und das Singen, das sei auch nicht viel anders als das, was er, der vor 70 Jahren in Wien Geborene, aus seiner Heimatstadt kennt. Und wo man damit nicht vertraut ist, dort sehnt man sich danach, siehe "la bella Napoli" in der deutschen Literatur.

Nitsch und Morra haben keine gemeinsame Sprache, aber sich auf ein "eigens entwickeltes Italienisch" geeinigt. Bei allen Schwierigkeiten im Detail ist man sich in der künstlerischen Vision einig. Sie wird durch die Bezugspunkte C. G. Jung und Freud, Max Stirner, Nietzsche, de Sade und Artaud abgesteckt. Bei Nitsch ist zudem die Zusammenarbeit mit den anderen Wiener Aktionisten nicht wegzudenken, "auch wenn wir uns geografisch und entwicklungsmäßig voneinander wegbewegt haben".

Vor allem aber legt die religiöse Dimension Querbezüge zwischen Nitsch und Neapel nahe. Die Stadt, Nea Polis, eine griechische Gründung, hat ihre heidnischen Wurzeln nie ganz abgelegt und ist stolz auf sie. Nitsch andererseits, der vorgebliche Blasphemiker, ist wahrscheinlich strenger katholisch, also "das Ganze betreffend", als viele Pfarrer.

Im profanen und sakralen Blut mögen sie sich treffen. Neapels Schutzheiliger ist bekanntlich San Gennaro, dessen Blut am 19. September wieder fließen soll. Und - auch das gehört zu Neapel - am Wochenende wurde vor der Haustür des Chefs der Behörde gegen illegale Wohnbau- und Mülltätigkeit ein blutiger Schweinskopf gefunden, mit schriftlicher Warnung.

Achille Bonito Oliva wiegelt ab. Neapel, sagte er bei der Eröffnung und als Antwort auf eine alte Kritik an einer Nitsch-Performance, Neapel muss weder von Nitsch noch von San Gennaro gerettet werden. Es wird weiterhin ein Gefühl für das Leben und für den Tod haben. (Michael Freund aus Neapel/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15. 9. 2008)

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