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Bilder keine Bilder

derStandard.at | Kultur | Bildende Kunst 
23. August 2006
20:34 MESZ
Bis 24. 9.
Link: kunsthaus-bregenz.at

Zur Person

Der britisch-deutsche Künstler Tino Sehgal stellt im Kunsthaus Bregenz keine Bilder aus, sondern engagierte für die Dauer von fünf Wochen einige Dutzend Berufs-und Laiendarsteller und insgesamt 1400 Schulkinder, die er mit genauen Regieanweisungen versah. Das Ergebnis ist eine immaterielle Ausstellung mit kommunikationstheoretischen Ansätzen in vier Szenen. Für die Biennale von Venedig engagierte Sehgal 30 Laiendarsteller, die mit den verdutzten Besuchern vermittels Bewegung, Wort und Gesang in Kontakt traten. So skandierten sie etwa: "This is so contemporary!" oder "This is exchange!" Ausgelöst werden sollte dadurch vorgeblich ein Nachdenken über die Position der Kunst in der Gesellschaft bzw. deren wirtschaftliche Rahmenbedingungen.
Jedenfalls sind Tino Sehgals Inszenierungen zumindest für Institutionen käuflich zu erwerben und also Handelsware. Die renommierte Kölner Galerie Johnen & Schöttle vertritt den Künstler, dazu kommen Ausstellungen im Museum Ludwig Köln, im Van Abbemuseum, Eindhoven, dem ICA in London und der Fundacão Serralves in Porto. Die Handlungsanweisungen für die Animateure im (gelangweilten) Kunstbetrieb können durchaus 40.000 Euro kosten. Die sagen dann schick institutionskritisch monatelang "This is propaganda, you know, you know!" auf, und für vielleicht ein paar Jahre leben alle Beteiligten gut von der PR-Wirkung der behaupteten Interaktion dieser Kunst, die sich nur vor Ort materialisiert. Wertanlage ist das keine, ein Geschäft im Moment allemal. Zudem man auch Transportkosten spart und die Akteure vor Ort anmietet. (mm)  

Foto: David Weightman
Tino Sehgal im Kreis seiner Akteure im Kunsthaus Bregenz: Deren Arbeit im Museum unterliegt einem Abbildungsverbot.

Idee als Gegenstand des Kunsthandels
Mit der vergangenen Biennale von Venedig hat sich Tino Sehgal höchst erfolgreich als Künstler etabliert

Ware hat er keine anzubieten: Er verkauft "philosophische Ideen" um bis zu 40.000 Euro das Stück.


Bregenz - Den Besucher umfängt ein undurchdringliches Schwarz. Man muss sich an der Wand bis zu der Tür entlangtasten, die in den ersten Stock des Kunsthauses führt. Dort ist es immer noch dunkel, aber dennoch so hell, dass man einen Schemen in der Mitte des Raumes lokalisieren kann, der sich von der Nähe betrachtet zu einem Liebespaar konkretisiert.

Die beiden streicheln und kosen sich. Sind sie nackt? Fast zu dunkel, um es zu erkennen. Doch, sie sind nackt! Nächste Etage: Etwas heller, hier agieren fünf Laiendarsteller, die sich auf ein Kommando hin mit dem Gesicht zur Wand stellen und im Crescendo folgenden Satz murmeln: "The objective of this work is to become the object of a dis-cussion" (Das Ziel dieser Arbeit ist es, Diskussionsgegenstand zu werden). Die Gestalten weichen dem Besucher aus, reflektieren aber jede seiner sprachlichen Äußerungen. Zum Beispiel könnte man auf die Frage: "Was tun Sie hier?" folgende Antwort bekommen: "Der Besucher fragt ,Was tun Sie hier', seine Sprachmelodie legt nahe, dass er aus Wien stammt. Er ist höflich." Die Antworten bleiben indirekt, konkretisieren sich aber mit Fortdauer des Gesprächs und finden ein abruptes Ende, wenn der nächste Besucher naht, dann beginnt die Inszenierung erneut. Die große Befreiung aus diesen etwas beklemmenden Situationen findet in der dritten Etage statt. In dem lichtdurchfluteten Raum spielen rund 20 etwa acht- bis zwölfjährige Kinder. Sie gehen direkt auf die Besucher zu, stellen sich und die Ausstellung vor, fragen nach den Namen und den Ursachen des Besuchs. Sie binden die Leute in ihre Spiele ein, was auch recht drastisch geschehen kann: Am Eröffnungstag wurde ein Besucher im Kunsthaus Bregenz von der Räuberbande zu Boden geworfen und niedergehalten. Die Aufsichtsperson musste den Mann befreien.

Emotionale Energie

Die Anwesenheit der vielen Kinder wurde durch die langjährige und vertrauensvolle Zusammenarbeit des Kunsthaus Bregenz mit den Schulen in der Region ermöglicht. Tino Sehgal macht also verschiedene Arten von Kommunikation sichtbar und vor allem spürbar. Man wandert vom Autismus über den Voyeurismus und die indirekte Kontaktaufnahme hin zum offenen Dialog mit dem unbekannten Gegenüber. Ein eindrückliches Erlebnis. Selten setzt eine Ausstellung so viel emotionale Energie frei.

Tino Sehgals Arbeiten werden unter der Rubrik Bildende Kunst einsortiert, weil er Museen bespielt und im vergangenen Jahr Teilnehmer der Biennale in Venedig war. Der 30-Jährige, einer der aktuellen Shootingstars der hungrigen Kunstszene, ist ausgebildeter Choreograf und Ökonom. Das macht sich in seinen interaktiven Installationen bemerkbar: Die sind nicht nur dramaturgisch bis ins Detail durchdacht, Tino Sehgal vermarktet seine "Stücke" auch prächtig. Man kann ihm keine Bilder abkaufen, nicht einmal Fotos oder Ausstellungskataloge lässt der Künstler verlegen, sondern nur (philosophische) Ideen, die sich wie Regieanleitungen präsentieren. Die kosten allerdings bis zu 40.000 Euro das Stück und sind überdies mit der Auflage belastet, die Inszenierung ständig auf dem Spielplan (der Museen) zu halten. Sehgal ist ein Marketinggenie. (Michael Heinzel (APA / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24.8.2006)


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